Kriminologe Dirk Baier wurde als Kind von seinem Vater verprügelt und forscht heute umfassend zu Gewalt in unserer Gesellschaft. | Foto: Mara Truog

«Nein, Monster habe ich noch keine gesehen. Diese Menschen bestehen aus Fleisch und Blut. Sie haben zwei Augen, eine Nase, einen Mund.» Dirk Baier, Kriminologe an der Universität Zürich und Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), lächelt freundlich und drückt zum zweiten Mal auf den Knopf am Lift. «Wenn du einem Menschen gegenübersitzt, der getötet hat, dann siehst du ihm das nicht an. Das ist jemand mit normalen Träumen. Er ist nicht von Grund auf böse.»

Hier im brachialen Gebäudekomplex aus Beton und Glas auf dem Hochschulcampus Toni-Areal in Zürich West werde sein Institut von den Kreativen der Hochschule für Künste, die hier die meisten Räume einnehmen, eher «geduldet» als akzeptiert, und zwar «in der hintersten Ecke». Ein Zwinkern.

Fokus auf Gewalt
Dirk Baier ist Kriminologe an der Universität Zürich und Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Er ist in Sachsen geboren und aufgewachsen und hat in Chemnitz Soziologie, Psychologie und Politikwissenschaften studiert. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Jugend­kriminalität und der Gewalt- und Extremismusforschung.

Meist hocke er – für den Artikel jetzt leider langweilig – hier in einem der Büros, erstelle sozialwissenschaftliche Befragungen, die dann per Link verschickt würden, manchmal zusammen mit einem Meinungsforschungsinstitut. Keine Dschungelexpeditionen, keine Laboruntersuchungen also. Und auch Gespräche mit Straftätern von Angesicht zu Angesicht führe er kaum, zuletzt in einer Aussenwohngruppe der Justizvollzugsanstalt Hindelbank, wo Straftäterinnen nach der Haft zurück in die Freiheit geführt werden. «Zwischen mir und dem Verbrechen liegt oft der Fragebogen.»

Menschheit wird immer zivilisierter

Baier spricht in Schlagzeilen: geradeaus und griffig – wenn auch in breitem sächsischem Dialekt. Kein Wunder wird er von «20 Minuten» über «Blick» und «Tages-Anzeiger» bis zu deutschen Medien immer und immer wieder gebeten, seine Einschätzung zu den Auswüchsen unserer Gesellschaft zu geben. Mal geht es um Antisemitismus unter Jugendlichen, dann um Frauen, die ihre Kinder quälen, oder warum Menschen auf Gleise gestossen werden. Es geht um getötete Joggerinnen, «Messer-Migranten», Tritte gegen Alte, bespuckte Politiker, Polizeigewalt oder allgemein um die «aggressive Grundstimmung», wie ihn SRF zitiert.

Baier scheint Universalgelehrter für gewalttätiges – ja unzivilisiertes – Verhalten aller Art zu sein. Doch er wirkt beschwingt: «Und zwischen uns und dem Interview liegen nun acht Stockwerke. Achteinhalb, um genau zu sein. Auf den Fahrstuhl muss man zu lange warten.» Wir steigen also zu Fuss hoch. «Immerhin sind wir dann warm. Wie schön.»

«Der brutale Einzelfall beschreibt das grosse Ganze nicht.»

Baier sagt, er habe es sich früh angeeignet, das Gute im Schlechten zu betonen. Ob in der Forschungs- oder in der Medienarbeit: «Wir Kriminologen haben nicht immer nur die schlechten Nachrichten im Gepäck. Studien zeigen: Die Menschheit wird immer zivilisierter – trotz Ausreissern wie Kriegen.» Die interpersonelle Gewalt gehe bereits seit dem Mittelalter nach und nach zurück.

Atemlos in einem der kahlen Shared-Desk-Büros oben angekommen, muss er das erklären. Das Bild, das viele von der heutigen Zeit haben, ist ein anderes: eins von Verrohung und Bedrohung. «Ja, aber der brutale Einzelfall beschreibt das grosse Ganze nicht», sagt er. «Und das vergessen wir manchmal. Durch die Nachrichtenflut fällt es schwer, einzuordnen: Wo sind die Verbrechen passiert? Wie viele? Wie schlimm?»

«Man liest viel über die sogenannten kriminellen Ausländer. Aber diese überfallen meist niemanden, sondern sammeln ein, was herumliegt.»

Schnell werde er von der Politik instrumentalisiert: «Da gab es einen Vorfall! Jetzt muss etwas passieren!» Dann werde der Ruf laut nach drakonischen Strafen – obwohl diese laut Wissenschaft oft gar nicht sinnvoll seien. «Das Strafmass in der Gesellschaft auszuhandeln ist schwierig. Ich leiste einen Beitrag und sehe meinen Auftrag im Monitoring von dem, was da draussen wirklich passiert. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, Dinge zu benennen und, wenn nötig, richtigzustellen», so Baier. «Wir leben gerade in einer Phase zunehmender Kriminalität. Aber wir sehen vor allem einen Anstieg von Vermögensdelikten. Da wird mal ein Portemonnaie geklaut oder in ein Auto eingebrochen. Auf lange Sicht sehen wir aber ­einen Rückgang physischer Gewalt.»

Wenn die Medien ihn nach seiner Einschätzung fragen, bediene er die Sensationslust nicht. Er nimmt das Beispiel ausländischer Beschuldigter in der Schweiz. «Man liest viel über die sogenannten kriminellen Ausländer. Aber diese überfallen meist niemanden, sondern sammeln ein, was herumliegt. Daher: Auto abschliessen!» Und die Mehrheit zeige kein solches Verhalten. «Das wird in der Berichterstattung völlig unterschlagen.» Wenn Baier in solche emotional aufgeladenen Themen vorstösst, er aus der «Wohlfühlzone Wissenschaft» heraustritt, wird er oft selbst zum Opfer verbaler Gewalt, wird er in Leserkommentaren als Systemhure beschimpft, erhält E-Mails, wie bescheuert er doch sei. Doch das ist es ihm wert, sagt er, um einen Teil der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Gesellschaft zu tragen.

Polizistinnen zufriedener mit Demokratie

Viel schlimmer betroffen seien Menschen mittendrin, wie Polizistinnen und Polizisten. Zu ihnen forscht er aktuell. «Wir befragen derzeit alle in Ausbildung befindlichen mehrfach. Es gibt aus der Forschung Hinweise darauf, dass während dieser Zeit fremdenfeindliche Einstellungen zunehmen – dies wollen wir, neben vielen anderen Themen, für die Schweiz prüfen.» Die Vorstudie mit rund 80 Personen hat gezeigt, dass angehende Polizistinnen und Polizisten mit einer sehr grossen Motivation, dass sie etwas Gutes bewirken können, starten – die dann rasch absackt. Aber sie sind prinzipiell weniger ausländerfeindlich, äussern sich zufriedener mit der Demokratie und glauben weniger an Verschwörungen als der Rest der Bevölkerung.

Verschwörungstheorien machen Baier generell Sorge. Auch dazu forscht er. «Corona hat das Phänomen sichtbar gemacht. Wir sind drangeblieben und haben festgestellt: Dieses Denken verschwindet nicht. Staatsverweigerer sind sehr aktiv und vernetzt, auf Telegram gibt es grosse Chatgruppen. In einer Befragung haben wir jetzt gerade festgestellt, dass der Anteil derer, die staatsfeindlich denken, weiter steigt.»

«Einige Staatsverweigerer haben Schaum vor dem Mund und horten Waffen.»

Das Bild, dass etwas nicht stimme, dass fremde Mächte dahinterstecken, könne man leicht auf alles übertragen: Atomkraft, Krieg, Klima, das Gendern. «Die Gewaltbereitschaft dieser Menschen ist zehnmal so hoch wie in der Durchschnittsbevölkerung, wie wir in einer Befragung zu gewaltbereitem Extremismus herausgefunden haben. Einige haben Schaum vor dem Mund und horten Waffen.» Es brauche keinen Generalverdacht, aber man müsse diese Gruppen ernst nehmen, hinschauen, Beamtinnen sensibilisieren, dass es dieses hermetisch abgeschlossene Weltbild gebe. Dreizehn Jahre in der DDR und im Anschluss die Wirren der Nach-Wende-Zeit hätten ihm persönlich gezeigt, warum Demokratie und Freiheit so schützenswert seien.

Auf jede Frage hat Dirk Baier die passende Antwort. Ist der Mensch ein Raubtier? Er verlöre in gewissen Situationen seine Hemmungen. Aber testen könne man die These nicht, da der Mensch immer in einer Gruppe lebe – die ihm Grenzen setzt. Sind Männer brutaler? Anders. Wenn Männer Gewalt ausübten gegenüber Frauen, dann, um sie zu besitzen. Frauen führen Gewalt gegen ihre Männer aus, um sich zu befreien. Wer wird gewalttätig? Viele hätten schon in der Kindheit Gewalt erlebt.

«Angehörige von Opfern müssen erst ihr Leid bewältigen. Sie vertrauen dem Justizsystem. Die harte Bestrafung von Tatpersonen ist für sie zweitrangig.»

Aber: Nicht jeder werde dann ein prügelnder Vater. Er selbst sei das beste Beispiel: «Ich sehe die Treppe unseres Wohnhauses, ich bin etwa sieben Jahre alt, mein Vater, übergross, kommt auf mich zu, packt mich und prügelt mich die Stufen hoch.» Irgendwann habe ihn die Mutter gefragt, ob er einen neuen Papa möchte. Er habe mit den Schultern gezuckt und gesagt: «Ja.» Die Trennung beendete die Gewalt.

Eine letzte Frage wäre da noch: Und wenn Gewalt von Dritten die eigene Tochter träfe? Nachdenken. «Ich male mir ab und zu aus, was ich mit dem Täter tun würde. Menschen haben Gewaltfantasien, auch ich. Ich bin ein ängstlicher Vater», sagt er. «Doch aus der Forschung weiss ich: Angehörige von Opfern müssen erst ihr Leid bewältigen. Sie vertrauen dem Justizsystem. Die harte Bestrafung von Tatpersonen ist für Opfer zweitrangig.» Er sei ein positiver Mensch. «Gewalt fällt nicht vom Himmel. Alles hat Ursachen. Der Mensch ist nicht schlecht. Das hilft mir. Auch zu sehen: Die meisten halten sich an die Regeln. Überraschend viele!»