Wie aus dem Sterben ein Projekt wurde
Früher war der Tod ein Tabu der Moderne. Heute ist er ein öffentlicher Dauergast und eine Pendenz in der Planung des privaten Lebens.
Sterben müssen alle. Ob es auch alle können, scheint neuerdings fraglich. «Sterben und sterben lernen», «Die Fähigkeit zu sterben» – so und ähnlich heissen die Bücher, die derzeit problemlos einen halben Laden füllen. Es gibt «Sterben für Anfänger», das «Übungsbuch zur Akzeptanz des Unvermeidlichen» und den «Reisebegleiter für den letzten Weg».
Es geht in solchen Ratgebern um die Patientenverfügung oder die Wohnungsauflösung, um die man sich, so der Rat, «besser früher als später» kümmert – mit «Checklisten für das Abschiednehmen». Aber es geht auch um das Sterben selber. Also darum, «was wir für ein gutes Sterben tun können» oder «wie wir die Angst vor dem Sterben überwinden». Weil Ängste «Blockaden» sind, «die ein Loslassen verhindern». Und weil auch sonst alles im Leben so «gut organisiert, durchdacht und doppelt versichert» ist: «Doch sind wir auch so minuziös auf unsere Vergänglichkeit vorbereitet?»
Es ist offensichtlich: Der Tod steht auf der Agenda. Nicht nur das Leben, auch das Sterben ist ein Gegenstand der Lebensgestaltung geworden. Eine «fundamentale Transformation» im gesellschaftlichen Umgang mit dem Tod, diagnostiziert der Augsburger Soziologe Werner Schneider: Im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert habe eine «zunehmende Diskursivierung des Lebensendes» angefangen, also eine wachsende öffentliche Auseinandersetzung mit dem Sterben.
Unerwartetes Comeback
Zu erwarten war das nicht. Als eines der Kennzeichen der abendländischen Moderne galt bis vor kurzem die Verdrängung des Tods. Im Lauf des 20. Jahrhunderts sei er «ausgebürgert» worden, schreibt der französische Historiker Philippe Ariès in seiner «Geschichte des Todes»: Das Sterben wurde zunehmend aus den Wohnungen in die Spitäler verlegt und den Ärzten überlassen. Und es verlor dabei nicht nur seinen kirchlichen Rahmen, sondern auch seinen öffentlichen Wert und wurde zum unsichtbaren, ja «heimlichen» Ereignis.
Der Walliser Ethnologe und Soziologe Bernard Crettaz, der sich ein halbes Forscherleben mit dem Tod beschäftigt hat, spricht heute im Rückblick von der «Marginalisierung» des Sterbens. Und er macht sie vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fest: in der Ära der Konsumgesellschaft und der Wirtschaftswunderjahre. Vor allem der tote Körper sei damals von der Bildfläche verschwunden, schreibt Crettaz: «Er wurde beseitigt, jeweils so rasch wie möglich.»
Allerdings hatte Philippe Ariès schon im späten 20. Jahrhundert Anzeichen dafür bemerkt, dass sich an unserem Verhältnis zum Sterben womöglich etwas änderte; bei den Psychologen beispielsweise, die die Unterdrückung des Trauerns in der Öffentlichkeit kritisierten. Mittlerweile ist es zur Gewissheit geworden: «Die Veränderungen sind dramatisch», schreibt der Berliner Soziologe Hubert Knoblauch. Er stellt eine «zunehmende Popularität des Todes» fest. Den Anfang dieser Entwicklung sieht Knoblauch bei jenen sozialen Bewegungen,
die seit dem Ende der 1960er Jahre das Sterben zunehmend zum öffentlichen Thema gemacht haben: von der «Death Consciousness» und der «Natural Death» über die Aids bis zur Sterbehospiz beziehungsweise Hospizbewegung. Mittlerweile zeige sich die «Präsenz des Todes» nicht nur in den gehäuften Debatten über die Sterbehilfe, die Palliativmedizin oder den Hirntod, sondern auch mitten in der Alltagskultur. Also in einer Ausweitung des Totengedenkens, in einer neuen Vielfalt der Bestattungsformen, in der wachsenden Ratgeberliteratur oder auch in der allabendlichen Leichenschau in Fernsehserien wie «Six Feet Under», «Bones» oder «Der Bestatter».
Medialer Unterhaltungswert
Die Ära der Todesverdrängung scheint also vorbei, und mit diesem Befund ist Knoblauch nicht allein. Von einer «neuen Sichtbarkeit des Todes» spricht etwa der Kulturphilosoph Thomas Macho, von seiner «Rückkehr» der Soziologe Klaus Feldmann: Das Sterben sei zwar aus dem Alltag der meisten Menschen «ausgegliedert», doch über die Medien komme es zu ihnen zurück.
Das Sterben der Engländerin Jade Goody beispielsweise, die zuerst ihr Leben zur Fernsehsendung machte, als Insassin des «Big Brother»-Containers, dann aber auch dessen Ende. Die 27 jährige Zahnarzthelferin hatte Gebärmutterhalskrebs, und Millionen waren live dabei, als sie den Befund bekam. In den Medien zeigte sie dann auch, wie ihr die Haare ausfielen und wie sie immer schwächer wurde. Die «Sauerstoffmaske auf dem gemarterten Gesicht» (Die Zeit) und die Küsse ihres Ehemanns, ihre Angst vor dem Ende und ihre Tränen, die Sorge um die beiden Söhne und das Flehen um die «Todespille»: Das waren Bilder im Fernsehen und auf den Titelseiten. Nur ihren letzten Atemzug, den sie eigentlich dem Bezahlsender «Living TV» verkauft hatte, tat Goody in den frühen Stunden des 22. Septembers 2009 dann doch privat.
Umgekehrt kann das Sterben selber heute Unbekannte zu öffentlichen Figuren machen. So wie Norma Bauerschmidt. Die Amerikanerin bekam mit 90 Jahren die Diagnose Krebs. Sie trat aber keine Therapie an, sondern die «Reise ihres Lebens» (Der Spiegel): quer durch die USA, im Wohnmobil mit Sohn und Schwiegertochter. Auf Facebook gab es das Tagebuch aus dem Alltag einer Sterbenden, und je länger Bauerschmidt unterwegs war, desto bekannter wurde sie via Presse und Fernsehen. 21 000 Kilometer und 450 000 Facebook Fans waren es am Ende. Nach einem Jahr machte ihr Zustand die Weiterfahrt unmöglich; ein Sterbehospiz am Pazifik wurde im Herbst 2016 zu ihrer Endstation.
Individueller Abschied
Jade Goody und Norma Bauerschmidt sind Medienphänomene für ein Medienpublikum. Das gilt wohl auch für «Online Begräbnisse», also Übertragungen von Trauerfeiern per Livestream, die Bestattungsunternehmen in den USA ihren Kunden bieten.
Die neue Sichtbarkeit des Todes reicht aber viel weiter. So übernehmen Angehörige und Familien Aufgaben von den Experten des «ärztlich therapeutisch sozialen Bereichs», so die Beobachtung von Bernard Crettaz: «Der Tod wird dem technokratischen Zugriff etwas entzogen, er rückt stärker in die Lebenspraxis der Menschen ein.» Ein Beispiel ist das Leichenmahl, das wieder an Bedeutung gewinnt: als Anlass, an dem Verwandte, Freunde und Bekannte zur Gemeinschaft würden, die Trost in der Trauer biete. Der Tod ist eben auch, laut Crettaz, ein «herausragender Moment sozialer Bindung».
Das stellen auch die Bestatter fest. In der Branche bemerkt man einen wachsenden Willen der Hinterbliebenen, manche Aufgaben selber zu übernehmen, etwa die Gestaltung von Sarg und Urne, die Rede beim Begräbnis oder auch die Formalitäten mit den Ämtern. Und das nicht etwa nur aus Kostengründen – da geschieht auch eine Rückkehr des Persönlichen. «Die Angehörigen möchten wieder etwas tun. Sie formulieren immer häufiger auch Forderungen im Zusammenhang mit dem Begräbnis», schreibt Crettaz. «Viele Bestattungsinstitute ermöglichen heute Rituale, auch im Umgang mit dem Körper des Verstorbenen: Angehörige können ihn waschen, kämmen, anziehen.» Dabei war es gerade der leibliche Tote, der in der traditionellen Moderne mit Berührungsängsten besetzt wurde. Aber: «Das Bewusstsein, dass der Körper ein wichtiger Teil des Todesschauspiels ist, ist wieder gewachsen.»
Neuer Zwang: «gut» sterben
Nach der Ausbürgerung des Todes kehrt er also zurück in den Alltag. Auf die Delegation an die Funktionäre folgt die Selbstbestimmung, wenn es ums Sterben geht. Der epochale Drang zur Individualisierung hat damit das Lebensende erreicht. Das ist in seinen Konsequenzen allerdings ebenso ambivalent wie jeder solche Schritt im Programm der Moderne: Die Selbstbestimmung ist stets auch eine Selbstverpflichtung. Und das gilt auch für die Sterbenden.
Werner Schneider hat die aktuellen Debatten über Patientenverfügungen und Organspenden untersucht. In der Art, wie der Tod heute dort verhandelt wird, sieht er eine neue Norm, «nach der es das eigene Sterben vorsorglich zu planen, zu organisieren, zu bewältigen gilt». Der Tod ist zum Projekt für das Diesseits geworden. Auch die aktuelle Ratgeberliteratur vertritt dieses Gebot, und auch sie bewertet die Möglichkeiten des Sterbens zwischen Scheitern und Gelingen. «Wann und wie werde ich sterben? Wie kann ich den Angehörigen die Trauer erleichtern? Wohin mit den ‹Schätzen› des Lebens? Darf gelacht werden?» Lauter Fragen, die geklärt sein wollen, gemäss dem Buch eines Psychotherapeuten und Hospizvereinsvorsitzenden. Wer also einen «gelassenen und angstfreien Umgang mit dem Lebensende» will, der braucht heute «ein klares Konzept und eine bewusste Haltung» angesichts des Todes.
Schneider erkennt einen neuartigen «Zwang zur sozialverträglichen Bekümmernis um die letzten Dinge», eine gesellschaftliche «Vereinnahmung» und «ReMoralisierung» des Sterbens. Und er hinterfragt diese neue Norm: «Muss jeder wirklich entscheiden wollen, ob er sich als Hirntoter tot genug für eine Organspende sieht? Muss jeder seinen Angehörigen Entscheidungen abnehmen wollen? Muss jeder ihnen, den Ärzten, der Gesellschaft Unannehmlichkeiten ersparen wollen? Wer kann hier noch fragen, ob er wirklich jenes freie Subjekt sein möchte, ohne die Dinge, auch die letzten, mal so, mal so sehen zu dürfen?»
Schicksal ist aus der Mode
Die Frage spitzt sich zu, wenn es ernst geworden ist. «Früher war der Tod Inbegriff der Erfahrung eines fremdbestimmten Schicksals», schreibt der Zürcher Ethiker und Seelsorger Heinz Rüegger. Heute sei er durch die verlängerte Lebenserwartung und die medizinischen Möglichkeiten zu einer Frage von Entscheidprozessen geworden.
Es gehöre zweifellos, so Rüegger, zur «Würde jedes Menschen», ausser seinem Leben auch sein Lebensende möglichst nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Zugleich hat er ähnliche Bedenken wie der Soziologe Schneider. Ein möglichst rascher, schmerzfreier Tod etwa, bei geistiger Klarheit, im Besitz der sozialen und körperlichen Selbstkontrolle, ohne Abhängigkeit von Fremdpflege – ein solcher Anspruch birgt nach Rüegger die Gefahr eines «gesellschaftlichen Drucks», der das «würdige» Sterben zur Verantwortung des Einzelnen macht; zu seiner Schuld den Angehörigen und der Allgemeinheit gegenüber. Die gängige Idealisierung der Selbstbestimmung auf dem Sterbebett zeigt damit ihre Kehrseite: So «verkommt, was als Befreiung gedacht war, zu einem neuen Zwang, der den Einzelnen überfordern kann und ihm die Würde abspricht, wenn es ihm nicht gelingt, ein ‹gutes› Sterben zu realisieren». Anders gesagt: Die fortgeschrittene Moderne ist gerade daran, die Prüfung des erfüllten Daseins zu verlängern. Und Scheitern ist möglich, bis zum Schluss.
Daniel Di Falco ist Historiker und Journalist bei «Der Bund» in Bern