Mit Ideen experimentieren
Die Geheimnisse unseres Erbguts lassen sich mit einem Klick entschlüsseln und hochladen. Doch wer soll diese Informationen nutzen können – und wofür? Diese schwierigen Fragen beschäftigen die Bioethikerin Effy Vayena.
Ihr Erwachsenenleben verbrachte Effy Vayena zum Grossteil fernab der griechischen Insel Lefkada, ihrer Heimat. Nach dem Abschluss ihres Geschichtsstudiums in Athen führte ihre Laufbahn sie von den USA über Grossbritannien und Myanmar bis in die Mongolei. Heute lebt sie in Zürich. Und sie nimmt sich noch immer jeden Sommer Zeit, um ihre Familie in Lefkada zu besuchen und mit ihren beiden Töchtern Wasserski zu fahren. «Die Insel ist unglaublich schön und sonnig – wer an einem solch sonnigen Ort geboren wurde, ist wohl natürlicherweise optimistisch», sagt sie.
Optimismus scheint ein nützlicher Charakterzug für eine Wissenschaftlerin, die Antworten auf einige der schwierigsten ethischen Fragen der heutigen Gesellschaft finden soll. Als Professorin für Gesundheitspolitik und Gründungschefin des Health Ethics and Policy Lab an der Universität Zürich befasst sich Vayena mit den regulatorischen Herausforderungen, welche die Fortschritte in der Gesundheits- und Medizintechnologie mit sich bringen.
Sie widmet sich Fragen wie Datenschutz, Fairness und Wahlfreiheit, auf die das Gesetz bisher keine Antwort gibt. Dank Genomforschung und Gensequenzierung können wir zum Beispiel mehr über die Zukunft von Patienten in Erfahrung bringen als je zuvor. «Aber welche Informationen sollen wir an Patienten weitergeben – oder an Dritte?", fragt die Bioethikerin. Und: «Müssen diese Daten privat bleiben oder zum Wohl der Allgemeinheit nutzbar sein?»
Programme entwickeln – und Autos
Vayena war nicht immer an Hochschulen tätig. In die Schweiz kam sie 2000 für eine Stelle bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf.
«Ich habe ursprünglich Geschichte und Ideengeschichte studiert. Mit der Zeit verlagerte sich mein Interesse zu ethischen und medizinischen Streitfragen – vor allem im Bereich Reproduktion und Genetik.»
Bei der WHO untersuchte sie die Reproduktionsgesundheit in Entwicklungsländern mit Fokus auf der Unfruchtbarkeit. Dieses Problem wird selten mit den bevölkerungsreichen Entwicklungsländern in Verbindung gebracht. Laut Vayena beeinflusst es aber die Gesundheit und das Wohlergehen dort genauso wie in Industrieländern. Sie erforschte, wie neue Reproduktionstechnologien das Leid der Betroffenen lindern könnten und ob sie auch bei bescheidenen medizinischen Ressourcen ihren Platz haben.
Als Teil dieser Arbeit unterstützte Vayena regionale Gruppen bei der Umsetzung von ethischen Forschungsprogrammen. Am meisten beeindruckte sie dabei der Kontakt mit den Forschenden. «Als ich in Myanmar war, sprachen diese ganz offen über ihre Herausforderungen, fehlende Mittel, ihre ethischen Werte und Menschenrechte», sagt die Forscherin. «Sie inspirierten mich mit ihrer Entschlossenheit, ihre Forschung und ihr Leben zu verbessern und Hindernisse zu überwinden. Sie bauten sich sogar selber Autos zusammen, um mobil zu sein – ich fuhr eines davon.»
Nach der Geburt ihrer ersten Tochter kehrte sie 2008 im Rahmen eines Habilitierungsprogramms für Bioethik und Gesundheitspolitik an der Universität Zürich in die Wissenschaft zurück.
Ein weiteres ihrer Interessengebiete ist die Citizen Science. Die Bewegung ist nicht neu, dank Smartphones und Internet können Beteiligte aber mehr und schneller Daten austauschen als je zuvor.
Demokratische Citizen Science
Für Vayena ist die Schweiz ein idealer Ort, um Aspekte der Citizen Science zu untersuchen: Wie können wir die Beteiligten und ihre Daten schützen und alle in wissenschaftliche Entscheidungen einbeziehen? «In der Schweiz darüber zu forschen ist wegen der Tradition der direkten Demokratie besonders interessant", sagt sie. «Ich will herausfinden, wie wir mit Normen zur Lösung von Problemen in den Bereichen Ethik, Gesundheit und Daten beitragen können. Und wie legen wir Normen fest? Idealerweise durch Reflexion und demokratische Partizipation.»
Vayena kann nun selber mitentscheiden. Sie hat im vergangenen Jahr die Schweizer Staatsbürgerschaft erhalten. Der Zufall wollte es, dass sie gleich bei ihrem ersten Urnengang über Präimplantationsdiagnostik abstimmen konnte – ein umstrittenes Verfahren mit In-vitro-Gentests an menschlichen Embryonen, bevor diese in den Uterus einer Frau eingepflanzt werden. Vayena stimmte für die Revision der Schweizer Gesetzgebung, damit dieses Verfahren erlaubt wird. Die Vorlage erhielt am 5. Juni 2016 eine Mehrheit.
Demokratisch organisiert ist auch Vayenas Labor: «Ich schaffe gern eine informelle Atmosphäre ohne viel Hierarchie. Wir arbeiten hart und lachen viel», sagt sie. «In meinem Labor verwenden wir keine Pipetten. Es geht eher um Experimente mit Ideen.»
Nächstes Jahr werden die Bioethikerin und ihr Team ein Projekt in Angriff nehmen, das Big Data, Ethik und Gesundheit kombiniert. Vayena engagiert sich auch an vorderster Front im neuen Swiss Personalized Health Network (SPHN), in einer von der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften koordinierten und mit 70 Millionen Franken dotierten nationalen Förderinitiative. Diese soll die personalisierte Medizin durch harmonisierte Rahmenbedingungen für medizinische Daten in der Schweiz vorantreiben – und nach Möglichkeit darüber hinaus. Und wenn ihr dann immer noch Zeit bleibt? Längerfristig möchte Vayena den Einfluss der künstlichen Intelligenz auf medizinische Forschung und das Gesundheitswesen untersuchen.
Doch vorerst ist sie zufrieden, wenn sie Zeit mit ihren Töchtern verbringen kann: «Ich spreche viel mit ihnen. Sie wachsen dreisprachig auf – mit Deutsch, Griechisch und Englisch –, und ich beantworte viele Fragen! Jeden Sommer besuchen wir Griechenland. Im Skifahren haben sie mich überholt, aber auf den Wasserskiern bin ich immer noch voraus.»
Celia Luterbacher ist Journalistin bei swissinfo.ch.