Das gestaltete Naturparadies
Der Ökologe Christoph Küffer fordert ein Umdenken im Naturschutz: Um die Biodiversität zu schützen, soll der Mensch die letzten Reste unberührter Natur nicht bewahren, sondern vermehrt in diese eingreifen.
Naturschützerinnen und Naturschützer sind ernüchtert. Von den rund 45 000 bekannten Tier- und Pflanzenarten der Schweiz sind ein Drittel bedroht, Hunderte sind in den letzten Jahren ausgestorben oder sie sind unter Druck. Die Biodiversität schwindet praktisch ungehindert, trotz aller bisherigen Anstrengungen.
Angesichts dieser Entwicklung plädiert Siedlungsökologe Christoph Küffer für ein Umdenken im Naturschutz. «Schützenswerte Landschaften sind hierzulande zu fragmentiert, um ihre Biodiversität zu erhalten», sagt er. Zudem verändere der Mensch mit dem Ausstoss von CO2 und Stickstoff alle Lebensräume irreversibel. Bewahren allein reiche im Zeitalter des Anthropozäns nicht mehr, sagt Küffer, der an der Hochschule für Technik in Rapperswil und an der ETH Zürich unterrichtet. Sein Vorschlag: Natur-Design. «Um die Biodiversität zu erhalten, bleibt uns nichts anderes übrig, als eine neue Natur der Zukunft zu erfinden und zu gestalten.»
Schutzgebiete gestalten
Küffers Idee wäre eine radikale Abkehr bisheriger Praktiken, wie sie zum Beispiel im Fall des Nationalparks umgesetzt wurden. Auf den 17 000 Hektaren des Bündner Parks sind Tiere und Pflanzen möglichst ungestört und Eingriffe des Menschen verpönt. Statt authentische Wildnis sich selbst zu überlassen, soll laut Küffer vielfältige Natur vermehrt durch Menschenhand erhalten und kreiert werden. Selbst Eingriffe in Schutzgebiete wären denkbar: Der Ökologe könnte sich zum Beispiel vorstellen, das Neeracherried, eines der letzten grossen Flachmoore der Schweiz in der Nähe von Zürich, am Rand mit gestalteten Magerwiesen zu ergänzen. Mit dem Ziel, eine unnatürlich reiche Biodiversität zu schaffen. Auch die vielen kleinen Naturschutzgebiete im Schweizer Mittelland liessen sich intensiver, das heisst artenreicher, gestalten.
Natur-Design würde zudem bedeuten, dass Dachgärten, begrünte Fassaden oder Parkanlagen im Siedlungsraum zurückgedrängten Arten neuen Lebensraum bieten. Die berühmte High Line mitten in New York, eine gestaltete Naturlandschaft auf einem ausrangierten Bahntrassee, ist für den Querdenker eine beispielhafte Umsetzung seiner Ideen: «Naturschutz als Gestaltung bedeutet, dass jeder beliebige Ort das Potenzial hat, zu einem Naturparadies zu werden.» Die Biodiversität der Zukunft wäre eine Mischung aus wilden Arten sowie Nutz- und Zierpflanzen mitten im Kulturraum des Menschen.
Mit der gestalteten Biodiversität verbunden ist für Küffer auch eine Verschiebung des Naturschutzes weg von Spezialisten und Verwaltung hin zu Gärtnern, Bäuerinnen und Naturliebhabern. Zu Menschen also, die schon immer Natur schufen. Naturschutz würde so vielschichtiger und ungeplanter.
Rare Arten sterben so oder so aus
In der Konsequenz würde Natur-Design wohl bedeuten, dass manche bedrohte Art ausstirbt, weil ihr schwindender Lebensraum nur zum Teil ersetzt würde. Aber das gelte auch für die bisherige Naturschutzpolitik, sagt Küffer. Er ist überzeugt, dass sein Ansatz letztlich effizienter wäre: Durch gestaltete Landschaften könnten viele mittelmässig bedrohte Arten geschützt werden, während sehr seltene Arten auch mit viel Geld wegen der menschlichen Einflüsse längerfristig keine Überlebenschance hätten.
Küffers Thesen sind in Fachkreisen umstritten. Auch für Markus Fischer ist eine wertkonservative Bewahrung, wie sie vor 100 Jahren verfolgt wurde, heute kaum mehr möglich. Der Pflanzenökologe der Universität Bern und Präsident des Forums Biodiversität Schweiz ortet die Schwierigkeiten anderswo: beim mangelnden Geld und im fehlenden politischen Willen zur Umsetzung der Naturschutzziele. «Für einen effektiven Schutz und die Förderung der Biodiversität müsste diese auf rund 30 Prozent der Fläche priorisiert werden», erklärt Fischer. Teils in Schutzgebieten, die bisher nur gut zehn Prozent der Fläche der Schweiz umfassen, teils in biodiversitätsfreundlich genutzten Flächen
Mehr Mittel und Wertschätzung
Raffael Ayé, Programmleiter Artenförderung bei Birdlife Schweiz, weist darauf hin, dass auch der traditionelle Naturschutz zukunftsweisende Konzepte verfolge: "Wir versuchen schon seit den 1980er Jahren, mit integrierten Massnahmen Gebiete gleichzeitig zu schützen und zu nutzen." Man dürfe die Naturschutzziele und die Bewahrung auf keinen Fall aus den Augen verlieren. «Wir müssen weiterhin in den Schutz der wertvollsten Gebiete wie Trockenwiesen oder den Nationalpark investieren», sagt Ayé. Wie Markus Fischer plädiert er für mehr Unterstützung durch die Politik, das heisst mehr Mittel, eine höhere Wertschätzung und eine bessere Pflege bedrohter Lebensräume.
Christoph Küffer ist sich bewusst, dass viele der Kolleginnen und Kollegen seine Vorschläge als Provokation auffassen. Es gehe ihm nicht darum, verschiedene Haltungen gegeneinander auszuspielen. Die bisherigen Rezepte des Naturschutzes – Schutzgebiete und Förderung einzelner Arten – hätten durchaus ihre Berechtigung. Doch Küffer ist überzeugt: «Um die Biodiversität in einer Zeit von Klimawandel, intensiv genutzten Landschaften und knappem Geld umfassend zu erhalten, braucht es neue Ansätze und ein Umdenken.»
Stefan Stöcklin ist Redaktor an der Abteilung Kommunikation der Universität Zürich.