Feuer und Flamme
Der Anthropologe Graham St John untersucht Event-Kulturen und transformative Bewegungen. Derzeit widmet er sich der Frage, wie die «Burning Man»-Bewegung in Europa gelebt wird.
«Das auch als Black Rock City bekannte Burning Man Project wird in den Medien oft abschätzig als ‹neoheidnisches Hippie-Drogenfest› dargestellt. Doch das jährliche Kunst- und Feuer-Event hat sich zu einer gesellschaftlich und organisatorisch vielfältigen, grenzüberschreitenden Gemeinschaft entwickelt.
Heute halten sich weltweit 65 regionale Events in 30 Ländern offiziell an die Grundsätze des Burning Man Project. Europa ist mein Forschungsschwerpunkt und die grösste Wachstumsregion ausserhalb Nordamerikas. ‹Nowhere› im spanischen Saragossa ist das älteste Event in Europa, ‹Midburn› in Israel das mit über 10 000 Teilnehmenden im Jahr 2017 am schnellsten wachsende. Kleinere Events etwa in Frankreich, der Schweiz und Schweden sind ebenfalls faszinierende Interpretationen des Prototyps. Meine Forschung besteht darin, solche Events ausfindig zu machen, ethnografisch zu verarbeiten und mit den Führungsfiguren der Community zu sprechen. Als Ethnograf versuche ich, so viel wie möglich zu erleben und als Freiwilliger zu helfen, zum Beispiel im Medienzentrum Media Mecca.
Meine erste Begegnung mit Burning Man war von meiner ethnografischen Erfahrung mit alternativen Festivals und Outdoor-Raves in Australien geprägt. Ich dachte, ich würde mich auf diesem Gebiet auskennen, doch Burning Man war ein 360-Grad-Angriff auf meine Sinne. Seit 2003 nehme ich immer wieder an einem Lager mit dem Titel ‹Low Expectations› teil. Kürzlich war ich am ‹Blue Elephants›. Diese Menschen sind nun meine Familie, mein Clan. Die Lager finden im Blue Light District statt, das in einer vorübergehend eingerichteten Gemeinde liegt, wo 2016 70 000 Menschen zusammenkamen. Es gibt Hunderte von ähnlichen, selbstorganisierten Camps bei Burning Man. Die Events sind sorgfältig geplant, die Erfahrung selber ist aber unmittelbar und interaktiv. Wenn ich einige Meter Feuer und Flamme in eine Richtung gehe, sehe ich immer etwas Neues. Zufällige Akte von Sanftheit, Grosszügigkeit und Schönheit. In einem Moment bietet jemand knusprigen Speck an, im nächsten kann ich in der Wüste Rollerskaten oder einen 20 Meter hohen Leuchtturm-Cluster bestaunen.
Das Event als Erfahrung
Selbst als Forscher ist es unmöglich, sich von diesem Phänomen abzugrenzen. Ich schätze es, ein Mitglied der Gemeinschaft zu sein. Ich liebe auch die Wissenschaft. Mein Projekt hat quantitative Elemente – vor allem durch zwei Studien –, ist aber in erster Linie qualitativer Art. Ich verstehe Schreiben als Kunstform – vielleicht eine verlorene Kunst der Sozialwissenschaften. Vollkommene Objektivität ist eine Illusion. Zentral ist das Erleben – ich trage keinen weissen Kittel. Distanz ist in der Anthropologie notwendig: ein kritischer Blickwinkel, Selbstreflexion und Kritikfähigkeit.
Dazu nehme ich die Perspektiven von möglichst vielen Akteuren ein, lese mich ein und entwickle Codierungs-Mechanismen für Studien- und Interviewdaten.
Er ist Senior Researcher in Anthropologie an der Universität Freiburg und arbeitet mit dem Religionsforscher François Gauthier zusammen. Er hat einen Doktortitel der La Trobe University in Melbourne und hat acht Bücher über alternative Kulturen veröffentlicht.
Unsere Studie ist die erste über diese globale Bewegung. Sie untersucht die Diasporisierung von Burning Man und die Auslegung der zehn Grundsätze in Europa. Ich informiere mich über die Events, plane die Logistik und suche Interviewpartner.
Vor Ort gibt es dann viele Programmpunkte wie grosse Feuerinstallationen, Freiwilligen-Schichten, Hilfe bei Kunstprojekten und Gespräche mit Kunstschaffenden, für die ich ein Aufnahmegerät trage. Ich mache Velotouren oder Wanderungen und führe bewegende Gespräche mit Fremden. Die meisten Notizen mache ich mir nach dem Event.
Für das urprüngliche «Burning Man»-Festival entsteht jeden Spätsommer in der Black Rock Desert von Nevada vorübergehend eine Stadt voller Kunst und Veranstaltungen für 70 000 Teilnehmende. Die dort gelebte Kultur und Skulpturen «El Pulpo Mechanico» (im Bild) aus 2016 verunmöglichen es Anthropologen, sich davon abzugrenzen.
Es gibt immer viele unerwartete Erlebnisse. Nehmen Sie als Beispiel ‹No-One’s Ark›, eine Replik der Arche Noah, 10 Meter hoch und 50 Meter lang. Ich wusste nichts über diese Installation, es war eine echte Entdeckung, auf die ich zufällig stiess, als ich 2016 in meiner ersten Nacht durch Midburn City wanderte. Ich ging hinein und legte mich hin, um mich herum eine experimentelle Klangkulisse mit brechenden Wellen, wie bei einem Schiff auf hoher See. Ich begab mich am Ende des Events nochmals dorthin, als die gesamte Community dem Abbrennen der Installation beiwohnte.
Das Phänomen des Burning Man verbreitet sich wie ein Lauffeuer und erfasst auch entlegene Orte. So springen durch die Zerstörung gemeinsam geschaffener Kunst mit Feuer die kulturellen Funken dieser Bewegung immer weiter.»
Aufgezeichnet von Clare O’Dea.