Die Justiz kopiert eine idealisierte Wissenschaft
Gemeinsam ist den Naturwissenschaften und der Justiz, dass sie Fakten in Erfahrung bringen wollen. Das Ergebnis fällt hingegen oft unterschiedlich aus. Die beiden Disziplinen inspirieren sich gegenseitig, nähren aber auch grundlegende Missverständnisse.
Ein Literaturhinweis in einem Fachartikel kann einen Gerichtsfall entscheiden. Genau dies geschah im Sommer 2017 in den Niederlanden bei einem Prozess wegen Kindesmissbrauchs. «Das Gericht beauftragte uns mit einem Gutachten», erzählt Silke Grabherr, Leiterin des Westschweizer Zentrums für Rechtsmedizin an der Universität Lausanne. Wie dies vermehrt üblich ist, führte die Forscherin in ihrem Bericht Fachliteratur zum Thema auf. «Die Verteidigung stürzte sich dann auf einen Artikel aus der Bibliografie, dem eine unzureichende statistische Stichprobe zugrunde liegt. Wir hatten diese Studie aufgeführt, weil es die erste zu dieser Frage war, wie wir dies im Rahmen einer wissenschaftlichen Publikation getan hätten. Alle neueren Artikel kamen dann zu einem anderen Schluss. Doch der Verweis auf diese ältere Studie reichte aus, um unseren Bericht als zweifelhaft darzustellen und so den Ausgang des Verfahrens zu kippen.»
Die Episode veranschaulicht, dass ein neuer Trend auf unserem Kontinent Fuss gefasst hat: Expertengutachten nicht mehr vorbehaltlos Glauben zu schenken. «In den USA ist dies schon lange üblich, doch in der Schweiz oder Deutschland wurden die Einschätzungen eines Professors vor Gericht früher in der Regel nicht angezweifelt», erklärt Grabherr. Der Fall ist jedoch vor allem symptomatisch für die komplexen Beziehungen zwischen Wissenschaft und Rechtsprechung. Beide Disziplinen wollen Fakten in Erfahrung bringen, tun dies aber auf unterschiedliche Weise.
Allzu simple Sichtweise
Die Justiz scheint manchmal noch höhere wissenschaftliche Ansprüche an sich zu stellen als die Wissenschaft selber. Alain Papaux, Philosoph und Rechtsepistemologe an der Universität Lausanne, sieht darin eine paradoxe Ambition: «Die Justiz möchte sich als Wissenschaft beweisen und nimmt dazu die exakten Wissenschaften als Vorbild. Unglücklicherweise orientiert sie sich dabei an einem – im Wesentlichen kartesischen – Wissenschaftsmodell, das vollkommen veraltet ist. Denn in der heutigen Epoche glauben die Wissenschaften nicht mehr an eine absolute Wahrheit. Sie glauben lediglich an einen Konsens innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Sie machen sich damit einen Ansatz zu eigen, der bereits im römischen Recht etabliert war.»
Damit hat sich eine Art Seitenwechsel vollzogen. Während die Gerichte immer häufiger naturwissenschaftliche Instrumente nutzen und zum Beispiel zur Klärung eines Sachverhalts MRI-Bilder oder DNA-Profile anfordern, ist ein gegenläufiger Trend im Gange, der tiefgreifender ist, aber weniger wahrgenommen wird, nämlich eine stärkere Anlehnung der Naturwissenschaften ans Recht. «Die Wissenschaft räumt gerne ein, dass sie das juristische Denken mit Interesse verfolgt», fährt Papaux fort. Selbst grosse Epistemologen waren sich bewusst, dass sich die Wissenschaft auch vom Recht inspirieren lässt, etwa Henri Poincaré oder Karl Popper, und selbst überzeugte Positivisten wie Jean Bricmont und Alan Sokal. Popper bestätigt, dass der Erkenntnisgewinn in der Wissenschaft ähnlich verläuft wie das Beweisverfahren eines Geschworenengerichts im englischsprachigen Rechtssystem; dass somit im Grunde dieselbe Intersubjektivität das Herzstück der Naturwissenschaft bildet.
Auf den ersten Blick besteht ein grundlegender Unterschied zwischen dem Beweisverfahren in einem Prozess und dem Nachweis durch ein wissenschaftliches Experiment. «Für das Vorbringen von Beweisen in einem Prozess gelten viele Regeln, die in der Forschung nicht beachtet werden», erläutert Olivier Leclerc vom Zentrum für kritische Rechtsforschung in Saint-Étienne (F). «Beispielweise gibt es zeitliche Beschränkungen: Fakten können verjähren und keine Berücksichtigung mehr finden, weil sie zu lang zurückliegen. Zudem bestehen Formvorschriften, zum Beispiel müssen gewisse Beweise schriftlich vorliegen. Ein Gericht kann deshalb aus rechtlichen Überlegungen ein Gutachten selbst dann ablehnen, wenn es überzeugt ist, dass es wissenschaftlich korrekt ist», führt Papaux aus. Gewisse Beweise sind daher faktisch einwandfrei, aber trotzdem nicht relevant: «Wenn ein Video illegal beschafft wurde, das eine Straftat zeigt, sind zwar die Tatsachen eindeutig belegt. Doch ein unrechtmässiger Beweis ist kein Beweis, und ein Gericht darf diesen nicht berücksichtigen.»
Idealisierte Wissenschaft
«Die Vorstellung gewisser Juristen, dass diese Art von Beschränkungen in der Wissenschaft nicht vorkommt, stützt sich auf eine idealisierte Vorstellung des wissenschaftlichen Vorgehens», ergänzt Leclerc: «Auch für wissenschaftliche Nachweise gelten Regeln: Es gibt Protokolle, ethische Normen, gewisse Gepflogenheiten bei den Peer-Review-Fachzeitschriften. Im Recht ebenso wie in der Wissenschaft nähert man sich der Wahrheit durch konvergierende Interpretationen, durch kollektive Entscheidungen zur Plausibilität der Ansätze. Das Ergebnis ist dann eher ein aufgeklärter Konsens als eine Gewissheit.
Die Arbeit von Silke Grabherr verkörpert dieses Vorgehen an der Schnittstelle zwischen den beiden Disziplinen. Sie führt das Prinzip der Peer Review im Alltag der Rechtsmedizin ein. «Jedes unserer Gutachten wird von mindestens zwei Personen verfasst und dann vom ganzen Team geprüft, dem rund zehn Ärztinnen und Ärzte angehören, die als Peer Reviewer wirken», erklärt die Forscherin. «Häufig weist das Review-Team darauf hin, dass man bei einer Interpretation zu weit gegangen ist oder eine Behauptung nicht erwiesen ist. Dieses Verfahren erspart uns viele Fehler.» Das ist auch ein Vorteil des Schweizer Systems, bei dem die Rechtsmediziner nicht allein tätig sein können, sondern einem Institut angegliedert sein müssen.
Begutachtete Begutachter
Wer die Plausibilität der Expertenmeinungen in einem Gerichtsverfahren beurteilt, ist je nach Land unterschiedlich. In den USA sind am Obersten Gerichtshof seit dessen Urteil von 1993 im Fall Daubert gegen Merrell Dow, bei dem die Eltern eines Kindes mit Geburtsbehinderung den Hersteller eines Medikaments gegen Schwangerschaftsübelkeit verklagten, die Richterinnen und Richter dafür zuständig. «Seither liegt es an ihnen, die Zuverlässigkeit der Gutachten – die meistens von den Parteien präsentiert werden – zu beurteilen, indem sie überprüfen, ob die dargelegten Erkenntnisse im Allgemeinen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft akzeptiert sind, ob eine Fehlerquote bekannt ist usw.», erklärt Olivier Leclerc. In Frankreich dagegen bestimmt das Gericht die Expertinnen und Experten. Die Frage der Kompetenz ist mit Expertenlisten geregelt, die von der Generalversammlung der Berufungsgerichte zusammengestellt werden und einer vom Justizministerium festgelegten Nomenklatur folgen. Ihr Wissen wird im Prozess dann nicht mehr infrage gestellt.
Dieser Unterschied ist wesentlich. «In den USA kann man von einer Epistemologie der Justiz sprechen», meint Leclerc. Alle Urteile des Obersten Gerichtshofs bestimmen insgesamt, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse für einen bestimmten Prozess relevant sind. In Frankreich und Belgien haben wir es eher mit einem wissenschaftlichen Rechtsverständnis zu tun: Die Frage, wie robust die Erkenntnisse sind, wird von den Gerichten nicht behandelt, sondern in erster Linie auf Verwaltungsebene geregelt.» Die Praxis der Schweiz liegt in der Mitte: Die Staatsanwaltschaft kann grundsätzlich nach freiem Ermessen Fachpersonen bestimmen, diese wenden sich jedoch immer häufiger an Rechtsmediziner, die dann als Co-Experte jemand aus einem bestimmten Gebiet beiziehen können», erklärt Silke Grabherr.
Die Beziehungen zwischen Wissenschaft und Justiz wandeln sich stetig. Beide Disziplinen gehen in der Praxis davon aus, dass es nicht eine absolute Wahrheit gibt, sondern lediglich eine Annäherung an die Wahrheit, wenn «alle begründeten Zweifel ausgeräumt sind». Dieses Bewusstsein für Unsicherheiten war dem Recht viel früher eigen als der Wissenschaft. Heute jedoch lebt die Wissenschaft problemlos mit diesen Ungewissheiten, während die Justiz eine Sicherheit anstrebt, die sie – zu Unrecht – in der Wissenschaft vermutet.
Zwei aktuelle Beispiele veranschaulichen diese Ambivalenz: erstens der Prozess, bei dem Personen nach einer Hepatitis-B-Impfung an multipler Sklerose erkrankten und deswegen klagten. «Der Kassationshof in Frankreich war zuerst der Ansicht, dass die epidemiologischen Studien keinen eindeutigen Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Krankheit zeigten», erklärt Leclerc. 2008 dann änderte das Gericht seine Haltung und kam zum Schluss, dass ein schwerer, konkreter und übereinstimmender Verdacht für einen solchen Zusammenhang besteht.» Die Justiz zeigte sich damit bei der Wahrheitsfindung wieder autonomer und legte einen anderen Beweisstandard zugrunde: Im Prozess werden auch weniger eindeutige Beweise als ausreichend erachtet.
Gerechtigkeit vs. Wahrheit
Ein zweites Beispiel zeugt von einer gegenläufigen Bewegung. Eine im Oktober 2016 in der Peer-Review-Fachzeitschrift Journal of Computer Science vorgestellte Studie berichtet von einem Algorithmus, der in 80 Prozent der Fälle zu demselben Urteil kommt wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Doch solche Instrumente der Predictive Justice gefährden das Bewusstsein, dass häufig auch Unsicherheiten bestehen. Für Boris Barraud von der Universität Aix-Marseille, der sich mit dieser Studie befasste, «ist diese Unsicherheit eine gute Sache, falls sie dazu führt, dass die Urteile dem Einzelfall angepasst werden. Sie erlaubt es zum Beispiel, bei uneigennützigen Delikten – namentlich Whistleblowing – vor Gericht Milde walten zu lassen, falls die Straftaten im Interesse der Allgemeinheit liegen.
Mit der Automatisierung der Rechtsprechung, die davon ausgeht, dass Fakten und Gesetze eine eindeutige Lösung hervorbringen, nähert sich das Recht keineswegs der Methodik der Wissenschaft an. Vielmehr baut sie auf eine idealisierte Vorstellung von Naturwissenschaft, von der sich diese selber weitgehend verabschiedet hat. Alain Papaux insistiert: «Die Epistemologen warnen uns seit Jahrzehnten: Die meisten Algorithmen basieren auf Statistiken. Diese sind aber ausser im mathematischen Bereich nicht sehr zuverlässig. In allen anderen Bereichen spielen immer auch Auslegungen und Entscheidungen eine Rolle. Wer diese Tatsache verschweigt, ist eher wissenschaftsgläubig als wissenschaftlich.» Wenn die Rechtsprechung einem idealistischen Wissenschaftsbild nacheifert, könnte sie ihren Daseinsgrund verlieren. «Denn die Wahrheit ist nur ein winziger Bestandteil des Rechts», schliesst Papaux. Hauptanspruch ist Gerechtigkeit, nicht Wahrheit.
Nic Ulmi ist freier Journalist in Genf.