Kontrovers: Setzen neue Technologien Behinderte unter Druck?
Intelligente Prothesen, Exoskelette, Smartphones: Immer geschicktere Technologien unterstützen Menschen mit Behinderung. Fokussieren Forschende einseitig auf deren Defizite?
Behinderung wurde lange primär als individuelle Einschränkung eines Menschen angesehen. Die Gesellschaft entwickelte entsprechend individuelle Lösungen: Die Person wurde möglichst fit gemacht, durch Physiotherapie, Prothesen oder Rehabilitation. Zudem erhielt sie eine Rente.
Erst in den 1980er-Jahren begann sich die Sicht auf Behinderung zu wandeln. Heute verstehen wir unter Behinderung die Wechselwirkung zwischen der individuellen Beeinträchtigung und Hindernissen in der Umwelt, welche die Teilhabe an der Gesellschaft erschweren. Diese Sicht fördert die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, da sie den Fokus auf die Barrieren in der Umwelt richtet. Verschwinden Hindernisse in der Umwelt, verschwindet diesbezüglich auch die Behinderung.
Genauso verhält es sich mit dem Makel, der oft mit einer Behinderung einhergeht. Der Schweizer Philosoph Peter Bieri definiert Makel als ein gesellschaftlich unerwünschtes und deshalb zu verbergendes Merkmal. Ohne gesellschaftliche Zensur gibt es keinen Makel.
Was haben diese Überlegungen mit neuen Technologien zu tun? Die technische Forschung ist noch heute primär darauf ausgerichtet, Individuen wieder fit zu machen. Gerade der Cybathlon der ETH Zürich, ein Wettkampf zwischen technisch unterstützten Menschen mit Behinderung, fokussierte in den Anfängen einseitig darauf.
Ich erachte es als sehr wichtig, dass technische Lösungen auch für den Abbau von Hindernissen in der Umwelt gesucht werden. Es braucht den technologischen Fortschritt auf der individuellen und der gesellschaftlichen Ebene. Davon profitieren, nebenbei gesagt, auch Eltern mit Kinderwagen, ältere Menschen und andere.
Wichtig bei der Entwicklung von neuen Technologien ist die Selbstvertretung. Menschen mit Behinderungen wissen am besten, auf welche Hindernisse sie im Alltag stossen und welche Hilfsmittel wirklich nützen. Der Einbezug von Betroffenen in die Entwicklung geschieht jedoch selten. In der Folge können sie unzählige speziell entwickelte Produkte, Hilfsmittel oder Gebäudestrukturen nicht nutzen.
Neue, immer kleinere Hilfsmittel und Prothesen erleichtern das Verbergen der Makel und fördern dieses Verhalten dadurch. Bewegen sich Menschen mit Behinderung jedoch selbstbestimmt mit ihren Makeln in der Öffentlichkeit, kann dies zur Überwindung oder Neubewertung des Makels führen. In den Köpfen wachsen neue Bilder, Vorurteile werden abgebaut und Menschen mit Behinderung lernen selbstbestimmt sich selbst und die Welt zu entdecken.
Ich bin überzeugt, dass technische Entwicklungen den Blick auf Behinderungen entscheidend prägen. Als Mensch mit einer Behinderung habe ich die Wahl, mich der gesellschaftlichen Anforderung zu beugen und einen vermeintlichen Makel zu verbergen. Oder aber ich lasse mich von fremden Bildern der Ablehnung und Akzeptanz nicht bestimmen.
Brian McGowan ist Historiker, Rollstuhlfahrer und setzt sich als Präsident von Sensability für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ein. Er arbeitet als Diversity-Beauftragter an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Menschen mit Beeinträchtigungen werden durch Barrieren in der Umwelt und Barrieren in den Köpfen in ihrem Alltag «behindert». Dies hemmt deren Integration und Teilhabe in Beruf und Freizeit. Manche dieser Barrieren wie Treppen in öffentlichen Räumen oder Vorurteile der Gesellschaft können nur mit grossem Aufwand abgebaut werden, andere gar nicht. Moderne Technik kann helfen Barrieren zu eliminieren. Beispielsweise unterstützen neuartige, motorisierte Beinprothesen und Orthesen, sogenannte Exoskelette, Menschen mit Behinderung in unwegsamem Gelände. Smartphones lesen Informationen vor, informieren und bringen Menschen zusammen. Schon heute sind sie ein nicht mehr wegzudenkendes Hilfsmittel für Menschen mit Sehschwächen und Mobilitätseinschränkungen.
Der Entwicklung und Vermarktung einer neuen Technologie dürfen keine Grenzen gesetzt werden, solange die Technologie ethisch korrekt eingesetzt wird. Dies bedeutet, dass die Technologie sicher sein muss, vom Nutzer freiwillig erworben und verwendet wird sowie für alle Nutzer gleich gut verfügbar ist.
Sicherheit und Freiwilligkeit sind heute grösstenteils gegeben. Die Herausforderung liegt in der Verfügbarkeit. Nicht alle Bevölkerungsschichten, vor allem in nicht industrialisierten Ländern, können sich die oft teuren Technologien leisten. Und die Kosten sind gerade bei erfolgreichen Anwendungen besonders hoch, auch weil eine hohe Nachfrage den Preis nach oben treibt.
Die Verfügbarkeit neuer Technologien kann einerseits mit marktwirtschaftlichen Mitteln verbessert werden. Dazu sollen Innovationszyklen möglichst kurz sein. Technologietransfers sollen parallel stattfinden, damit neue Technologien kompetitiv angeboten werden. Und wir müssen Vorteile neuer Technologien transparent kommunizieren. Andererseits erleichtern Gesetze und öffentliche Fördergelder den Zugang zu neuen Technologien. Vor allem in der Schweiz ist hier ein enormes Verbesserungspotenzial vorhanden. Die Finanzierung von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung ist stark limitiert: Der neuste Stand der Technik wird explizit nicht gefördert.
Neue Technologien setzen Menschen mit Behinderung nicht unter Druck, sondern fördern die Barrierefreiheit und verbessern die Lebensqualität. Dazu müssen die Technologien möglichst mit staatlicher Hilfe schnell und breit in den Markt eingeführt werden. Falsche Begehrlichkeiten und ungerechte Verteilkämpfe erübrigen sich dann von selbst.
Robert Riener leitet das Departement für Gesundheitswissenschaften und Technologie der ETH Zürich. Er forscht an deren Labor für Sensomotorische Systeme und an der Universität Zürich. 2016 lancierte er den Cybathlon, ein Wettkampf zwischen Menschen mit Behinderung, die von neuen Technologien unterstützt werden.