Auf der Suche nach Flüster-Stromleitungen mit mehr Saft
Das Schweizer Stromübertragungsnetz stösst an seine Leistungsgrenzen. Eigentlich bräuchte man neue Überlandleitungen, doch die sind der Bevölkerung suspekt. Der Doktorand Sören Hedtke versucht, mehr aus den Leitungen herauszuholen.
«Ich war schon ziemlich beeindruckt, als ich zum ersten Mal unser Forschungslabor betreten habe: ein Raum so gross wie eine Turnhalle, Generatoren so hoch wie ein Zehn-Meter-Sprungturm, dazwischen aufgespannt Freileitungen. Hier zu arbeiten, das ist etwas anderes, als sich über eine elektronische Schaltung zu beugen. Das wirkt schon sehr futuristisch.
Zukunftsweisend ist auch unser Projekt. Hier – am Lehrstuhl für Hochspannungstechnik der ETH Zürich – forschen wir an einem zentralen Infrastrukturprojekt unserer Gesellschaft: der Frage, wie man in Zukunft den Strom übers Land transportiert. Das ist eines der grossen Themen im Nationalen Forschungsprogramm 70 Energiewende (NFP 70), an dem ich mitarbeite. Wissenschaft als Selbstzweck, das war noch nie was für mich.
Das Problem, das wir lösen wollen, ist offenkundig: Das Stromübertragungsnetz in der Schweiz stösst an seine Grenzen, schon jetzt gibt es immer wieder Engpässe. Zum einen steigt der Strombedarf. Stellen Sie sich nur vor, was passiert, wenn flächendeckend auf Elektromobilität umgestiegen wird! Hinzu kommt, dass zunehmend dezentral Strom erzeugt wird. Windräder, Solaranlagen und Wasserkraftwerke sind über das ganze Land verteilt. Ihr Strom muss möglichst verlustfrei zu den Menschen gebracht werden.
Regen macht Leitungen laut
Dabei ist es nur schwer vorstellbar, viele neue Freileitungstrassen zu bauen. Dem steht die Bevölkerung sehr kritisch gegenüber. Deshalb müssen wir mehr aus den bestehenden Leitungen herausholen. Ein technischer Weg dahin ist weitgehend bekannt. Man kann die bestehenden Wechselstrom-Hochspannungsleitungen zu hybriden Trassen umrüsten, die gleichzeitig auch Gleichstrom transportieren. So entfallen Umwandlungsverluste, eine höhere effektive Spannung wäre möglich. Theoretisch liesse sich die Kapazität mehr als verdoppeln.
Das Hybrid-System hat aber auch Nachteile. Es kommt zu Wechselwirkungen zwischen den beiden Systemen. Dies kann zu einer höheren Geräuschentwicklung und zu stärkeren elektrischen und magnetischen Feldern am Boden führen. Unsere Aufgabe ist es, diese Nebenerscheinungen des Stromtransports zu minimieren, wobei wir nicht alle Effekte gleichermassen dämmen können. Man muss optimieren. Das ist eine spannende Sache, weil wir dabei an der Schnittstelle vieler Disziplinen stehen: Elektrotechnik, Physik, Akustik, Materialwissenschaften, Statik.
Viele unserer Experimente machen wir im Labor, wo wir das Wetter kontrollieren können. Schulklassen auf Besuch staunen immer, wenn wir etwa unseren Regensimulator anschalten und es plötzlich zu knistern beginnt. Oder wenn wir das Licht abschalten und die Schüler durch ein spezielles UV-Nachtsichtgerät die kleinen Blitze, die elektrischen Entladungen der sogenannten Korona, beobachten können. Diese sind die Folge des erhöhten elektrischen Feldes am Leiter durch Wassertropfen, Schmutz oder Kratzer an der Oberfläche und erzeugen das typische prasselnde Geräusch.
Nicht alle diese Effekte können wir im Labor simulieren. Schmutzeffekte etwa durch fliegende Gräser und Pollen oder besondere Wetterlagen lassen sich besser im Feld untersuchen. Das machen wir in unserer Forschungsstation in Däniken bei Aarau, wo wir zwei Leiterbündel von 35 Meter Länge in zehn Meter Höhe installiert haben. Das ist alles sehr aufwändig. Natürlich müssen die Sensoren extrem wetterbeständig sein. Auch können wir nicht einfach ein verkabeltes Messgerät an eine 400 000-Volt-Leitung legen; deshalb arbeiten wir viel über funkende Sensoren.
Vom Prinzip her ist das natürlich alles sehr gefährlich, aber wir haben sehr strikte Sicherheitsvorkehrungen. Alle riskanten Bereiche sind eingezäunt. Bei der kleinsten Abweichung schaltet das System sofort ab. Für die Arbeit an Mast und Seilen haben wir Kräne und Hebebühnen, niemand muss da hochklettern. Wir hatten noch nie einen Unfall. Und selbst wenn man direkt unter einer Leitung steht, könnte man allenfalls ein leichtes Kräuseln im Nacken spüren.
Aber auch so was möchte natürlich kein Anwohner erleben. Die Bevölkerung ist skeptisch gegenüber neuen Technologien. Deshalb arbeiten wir im NFP 70 auch viel mit Sozialwissenschaftlern zusammen, sie erforschen die gesellschaftliche Akzeptanz unseres Vorhabens. Auch wir Ingenieure wissen: Es ist sehr, sehr wichtig, gut zu kommunizieren.»
Aufgezeichnet von Christian Weber.