Editorial: World of Warcraft für den Lebenslauf
Video-Games fördern bei den Kindern neue Kompetenzen, die sich angesichts der Digitalisierung der Gesellschaft auszahlen. Eine Herausforderung für die Eltern.
Die Kehrtwende kam abrupt. Noch vor einem Jahrzehnt waren Videospiele ein Schreckgespenst: Gamen schotte die Jugendlichen von der Wirklichkeit ab und lasse sie gewalttätig werden, war man sich weithin einig. Diese vereinfachte und überzeichnete Sicht hat inzwischen einem differenzierteren Bild der neuen Kultur Platz gemacht. Experten weisen auf die wirtschaftliche Bedeutung der Branche hin, welche die Filmindustrie in den Schatten stellt, und Schweizer Hochschulen profilieren sich mit Kursen in «Game Design».
Diese Entwicklung geht weiter. Bereits wird in Lebensläufen auf die Erfahrung mit Online-Rollenspielen verwiesen – die sogenannten MMORPG wie World of Warcraft. Und das ist keineswegs abwegig: Bei einer Tasse Kaffee mit einem koreanischen Teamkollegen skypen, mühelos zwischen Kampfszenen und Strategiekarten wechseln, eine Flut von Informationen nach Nutzbarem filtern oder die ganze Nacht durchhalten, um in der Rangliste nach oben zu klettern – das sind in der modernen Berufswelt erwünschte oder sogar geforderte Fähigkeiten. Die zunehmende Bedeutung der digitalen Kultur, ihre Codes und ihre Praktiken lassen sich nicht länger ignorieren. Passionierte Gamer haben sich dabei einen Vorsprung erspielt: Sie haben bereits gelernt, sich sowohl in der realen als auch in der virtuellen Welt zu behaupten.
Die Wissenschaft interessiert sich nun also auch für die Lerneffekte von Videospielen. Doch davon auszugehen, dass alle Gamer von heute zu beispielhaften Berufsleuten von morgen heranreifen, wäre illusorisch. Diese naive Hoffnung entspringt wohl einer Strategie zur Bewältigung des Unbehagens, das viele angesichts der fortschreitenden Digitalisierung verspüren. Denn wenn wir etwas Unbekanntem gegenüberstehen, stürzen wir uns oft auf das erstbeste Gegenmittel und schreiben ihm geradezu magische Kräfte zu.
Die Schule und auch die Eltern müssen in dieser Frage eine zentrale Rolle spielen. An die Stelle von Berührungsängsten, Unverständnis und Gleichgültigkeit gegenüber der Leidenschaft der Kinder für virtuelle Welten muss ein echter Austausch treten. Damit die neue Generation – ebenso wie die ältere – möglichst bald auf eine reale Welt vorbereitet wird, die zwar zunehmend auch einem Spiel gleichen mag, in der jedoch Belohnungen, Gratisleben und «Restart-Knöpfe» schmerzlich fehlen.
Daniel Saraga, Chefredaktor