Sandra Lösch: Skelette erzählen ihr Lebensgeschichten
Die Anthropologin der Universität Bern liest mit Hightech-Methoden aus Skeletten, wie die Menschen in der Steinzeit lebten und starben. Manchmal hilft sie auch der Polizei, Kriminalfälle zu lösen.
Was soll man machen als Doktorandin, wenn die hohen Mieten wenig Wohnraum erlauben und im Labor auch keine Knochen mehr Platz finden? «Standen die Skelettkisten eben in meinem Schlafzimmer», berichtet Sandra Lösch trocken aus der Zeit ihrer Promotion an der Universität München. «Gruselig fand ich das nicht.» An Gebeinen aus dem alpinen Bayern erforschte sie die Ernährung und den Gesundheitszustand der Menschen im Mittelalter. Kurz nach ihrem Abschluss 2009 wurde sie als Abteilungsleiterin Anthropologie an das Institut für Rechtsmedizin der Universität Bern gerufen. Solch steile Karriere will was heissen in einem Fach, «in dem die Berufsaussichten miserabel sind», wie sie selber sagt.
Geholfen hat bestimmt auch ihre zupackende Art, nicht nur beim Umgang mit Skeletten – und ihr Enthusiasmus. «Ich wollte in die Steinzeit abtauchen, seitdem ich ein kleines Mädchen war», berichtet Lösch, wippender Pferdeschwanz, strahlende Augen. Ein Kinderbuch hatte sie auf die Spur gesetzt. Sie kennt den Titel noch: «So lebten sie zur Zeit der Urmenschen». Und das wolle sie immer noch wissen: «Wie haben die ihr Essen gesucht? Wer kam auf die Idee, Tiere zu domestizieren? Hat da mal jemand gerufen: Hey, da ist eine Kuh, die fangen wir jetzt ein?»
Knochen sind wie Zeitmaschinen
Manchmal träumt sie von einer Zeitmaschine. Solange es die nicht gibt, nimmt sie halt Knochen. Die sind manchmal fast genauso gut. Die Ansiedlung ihrer Arbeitsgruppe am rechtsmedizinischen Institut führt nämlich ein wenig in die Irre. Zwar werden Sandra Lösch und ihr Team auch gefragt, wenn etwa skelettierte oder mumifizierte Leichen aus Kriminalfällen identifiziert werden müssen. «Da gibt es vielleicht alle zwei Monate einen Fall», sagt die Forscherin. Aber ihr wissenschaftlicher Schwerpunkt liegt im bioarchäologischen und paläopathologischen Bereich. Es geht darum, was Jahrtausende alte Skelette aus (prä-)historischen Zeiten berichten. Dabei helfen Hightech-Analysetechniken und, wie so häufig in dieser Disziplin, der Zufall.
Es ist dem Geburtstagswunsch eines 7-jährigen Bauernjungen aus Oberbipp zu verdanken, dass Sandra Lösch zu ihrem bislang grössten Fall kam: Der Bub durfte zur Feier des Tages zum ersten Mal den Bagger seines Grossvaters fahren. Er sollte einen grossen Stein aus dem Feld ausgraben. Dieser erwies sich als 7,5 Tonnen schwere Deckplatte eines Dolmens aus der Jungsteinzeit 3400 bis 3000 v. Chr. Darunter lagen an die 40 gut erhaltene Skelette, eine grosse Seltenheit. Meist sind solche Gräber ausgeräumt. «Ein spektakulärer Fund», ruft Lösch aus: «Mein Baby noch immer!»
Glücklicherweise hatten die Entdecker gleich die Archäologinnen und Archäologen informiert. In nur fünf Monaten wurden die Skelette geborgen. Die Forschenden gruben Tag und Nacht, trugen Handschuhe und Mundschutz, nahmen der Vorsicht halber DNA-Proben von ihrer eigenen Mundschleimhaut – zum Abgleich, um Kontaminationen auszuschliessen.
Früher beschäftigten sich Anthropologinnen und Anthropologen vor allem mit der Morphologie. Aus der Form von Knochen schlossen sie auf Alter, Geschlecht, Körpergrösse, vielleicht grob auf die Herkunft. Heute fahren die Forschenden zudem das ganze Arsenal der modernen biochemischen Analytik auf. Über genetische Analysen lassen sich noch nach Jahrtausenden Verwandtschaftsverhältnisse klären und Krankheitserreger untersuchen. Stabile Isotope informieren über Ernährung und Wanderbewegungen, und das in chronologischer Weise: Der Zahnschmelz wird nur in Kindheit und Jugend gebildet, die dort gespeicherten Isotope geben Auskunft über den Lebensort in jungen Jahren. Die Knochen speichern die letzten 10 bis 20 Jahre, die Haare die letzten Monate. In Zukunft wird man auch Eigenschaften wie Haar und Augenfabe an alter DNA rekonstruieren können. «Es ist einfach fancy», sagt Lösch.
Das dient sogar der Kriminalistik. So half ihr Team vor Kurzem bei der Identifikation einer Leiche ohne Ausweispapiere. Die Isotopenanalyse belegte eine Herkunft des Mannes aus dem früheren Jugoslawien, vor drei bis sieben Jahre musste er in die Schweiz einwandert sein und sich auch in seinen letzten Monaten hier aufgehalten haben.
Die Analysen zu Oberbipp laufen noch. Auf die Ergebnisse darf man mit Spannung warten. Was möglich ist, zeigen andere Studien der Berner Arbeitsgruppe: So konnte sie an Funden aus dem eisenzeitlichen Gräberfeld von Münsingen-Rain (circa 400 bis 200 v. Chr.) nachweisen, dass Männer mehr Fleisch assen als Frauen, insbesondere, wenn sie mit Waffen bestattet worden waren. Umgekehrt überraschte, dass römische Gladiatoren auf dem Gebiet der heutigen Türkei sich vornehmlich von Gerste und Weizen ernährten, was auf einen niedrigen sozialen Status deutet. Ebenfalls belegen Isotopen-Analysen, dass viele frühe Gesellschaften patrilokal organisiert waren, die Frauen also zuwanderten. Kurz: «Wir beantworten geisteswissenschaftliche Fragestellungen mit naturwissenschaftlichen Methoden», erläutert Lösch.
Die Anthropologin hofft, bald mit einem geplanten neuen DNA-Labor im Berner Institut auch zum Erkenntnisfortschritt in der Medizin beitragen zu können. Sie will sich dann wieder mehr der Erforschung alter Krankheiten zuwenden. Wann und wo tauchten erstmals die Erreger von Pest und Tuberkulose auf, wie wanderten sie? Wann wurden sie virulent? Wie evolvierten sie über die Jahrtausende? Bislang gaben nur unzuverlässige Chroniken Auskunft. «Statistik statt Spekulation», fordert Lösch. «Ich finde Schwafelpublikationen ätzend.»
Wenn die neuen Geräte stehen, wären neue Funde schön. Sandra Lösch setzt da auf die steigenden Temperaturen in der Atmosphäre. «Ich bin ein bisschen so was wie eine Klimawandel-Gewinnlerin», gesteht sie etwas verlegen. So hat das schmelzende Eisfeld am Schnidejoch (2756 m) zwischen den Kantonen Bern und Wallis bereits Hunderte Objekte aus 6500 Jahren Menschheitsgeschichte ans Tageslicht gebracht, Bogen, Pfeile, römische Schuhnägel. Vielleicht taucht dort irgendwann auch ein zweiter Ötzi auf, spekuliert Lösch: «Das wär’s – eine neue Eismumie.» Man könnte sie «Schnidi» nennen.
Christian Weber arbeitet als Wissenschaftsredaktor für die Süddeutsche Zeitung.