Schweizer Stofffabrikanten profitierten von weltweiter Vernetzung
Die Alten Eidgenossen von Genf bis Glarus waren im 18. Jahrhundert führend bei der Produktion bedruckter Baumwollstoffe, «Indiennes» genannt.
Baumwollstoffe, bedruckt mit bunten Mustern – das war im Europa der frühen Neuzeit etwas Ungewohntes, ja Faszinierendes. Seit der Entdeckung des Seewegs nach Indien nahm der Handel mit exotischen Gütern zu, ab dem 16. Jahrhundert importierten Holländer, Portugiesen und Engländer indische Baumwolltextilien nach Europa: eine pflegeleichte Alternative zu den gängigen Leinen- und Wollkleidern und viel angenehmer zu tragen. Mit ihren kunstvoll-blumigen Designs waren die Baumwollstoffe überdies so attraktiv wie die Seide, mit der die wohlhabenden Stände sich umgaben, aber deutlich preiswerter. Kein Wunder, wuchs auch in der Alten Eidgenossenschaft das Interesse, bei Konsumenten wie Unternehmern. Letztere standen indes vor einem Problem: Sie mussten sich zuerst einmal die virtuosen, uralten Druck und Färbeverfahren indischer Handwerker aneignen.
Das Vorhaben gelang, wie aus der Forschung bereits bekannt ist. Die Schweizer Indiennes-Industrie erlebte im 18. Jahrhundert eine Blütezeit. Der Aufschwung begann in den 1690er-Jahren in Genf, wo hugenottische Flüchtlinge aus Frankreich die ersten Indiennes-Manufakturen gründeten. Einheimische Unternehmer folgten dem Beispiel. Der «Kattundruck» verbreitete sich über Neuenburg, Biel und Basel in den Aargau, nach Zürich und Glarus. Die Geschichte der Schweizer Indiennes-Produktion sei aber bisher vorwiegend nationalstaatlich behandelt worden, sagt Kim Siebenhüner. Die Historikerin an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena erweitert dieses Bild nun um eine globalhistorische Perspektive.
Fördern statt verbieten
Das Forschungsprojekt, das sie noch als SNF-Förderprofessorin mit einem Team an der Universität Bern durchführte, zeigt: Der Erfolg der Indiennes-Industrie kam dank eines Wissens- und Technologietransfers zwischen Indien und Europa zustande, von dem auch Schweizer Fabrikanten profitierten. «Mehr noch», sagt Siebenhüner, «die Eidgenossen trugen als Akteure selber dazu bei, den globalen Wissens- und Warenverkehr im 18. Jahrhundert zu verdichten.» Der Beitrag der Schweiz zu diesen frühen Globalisierungsprozessen sei bisher zu wenig beachtet worden. Doch wie kam es, dass ein kleines Binnenland ohne direkten Zugang zu den grossen Handelshäfen, ohne Kolonien und Ostindien-Kompanie zu einer Indiennes-Drehscheibe aufstieg?
Siebenhüner und ihre Mitarbeitenden werteten diverse Quellen aus, darunter die überlieferte Firmenkorrespondenz der Indiennes-Manufaktur Laué & Cie. in Wildegg im heutigen Kanton Aargau. Auch aus alten Stadtberner Inventaren und aus der Beschäftigung mit Indiennes-Objekten in Museen gewannen die Forschenden Erkenntnisse. Hilfreich für die Schweizer Indienneure war das politische Umfeld. Frankreich, England und Preussen versuchten zeitweise, ihre einheimischen Weber mit Import- und Herstellungsverboten vor den asiatischen Baumwollstoffen zu schützen. Ganz anders die Schweizer Orte, wo die Obrigkeiten den neuen Wirtschaftszweig mit günstigen Darlehen oder Privilegien zum Kauf einer Wassermühle förderten. «Die Indiennes-Produktion wurde als willkommene Quelle neuer Arbeit betrachtet, die Leute in Lohn und Brot brachte», so Siebenhüner.
Auch gesellschaftlich sah die Schweiz weit weniger Konfliktstoff. Während in England warnende Stimmen vor dem Umsturz warnten – die Ständeordnung sei bedroht, wenn sich künftig gar bürgerliche Mittelschichtshaushalte Bettüberwürfe, Kleider und Westen aus Indiennes-Stoffen leisten könnten –, fehlte in der Schweiz ein solch moralisierender Diskurs. Weil die Indiennes hier dann doch einen gemässigteren Konsum-Boom auslösten als sonst in Europa? Darauf deuten jedenfalls die Forschungsergebnisse des Historikers John Jordan hin. Er hat die Situation in Bern anhand von Geltstagsrödeln untersucht – Inventaren, die bei Privatkonkursen erstellt wurden – und kommt zum Schluss: «Im Bern des 18. Jahrhunderts war Baumwolle einfach ein weiterer Stoff neben Wolle und Leinen.»
Die Indiennes-Manufakturen gelten als Vorläufer der Industrialisierung in der Schweiz, weil sie erstmals Arbeitskräfte unter einem Dach vereinten: Musterzeichner, Graveure für die Holzmodel, mit denen die Drucker das Muster auf den Stoff brachten, Koloristen, Zuarbeiterinnen und Zuarbeiter, die Direktion. Noch war aber die Herstellung nicht mechanisiert und äusserst aufwändig. «Das entscheidende Praxiswissen holten sich die Schweizer bei Fachkräften im Ausland», weiss Kim Siebenhüner. Besonders das Know-how armenischer Handwerker war gefragt. Diese hatten, von Asien her kommend, Indiennes-Pionierwerkstätten in Marseille, Genua, Livorno und Amsterdam gegründet.
«Jahrhundert des Lernens»
Bald waren es dann die in Schweizer Manufakturen ausgebildeten Handwerker, die ihr Wissen über die Indiennage weiterverbreiteten und als kompetente Fachkräfte im In- und Ausland begehrt waren. Die Schweizer entwickelten laut Siebenhüner Technik und Stilistik weiter: «Sie variierten die Rohstoffe und entwarfen Muster mit vertrauteren Sujets.» Es sei «ein Jahrhundert des Lernens» gewesen. Die Historikerin spricht von einer «mimetischen – nachahmenden – Ökonomie im 18. Jahrhundert», in der die Mobilität der Experten und die Zirkulation von Wissen die Schweizer Wirtschaft beflügelt haben. Die Eidgenossen hätten den Nutzen höher gewichtet als einen allfälligen Schaden durch Industriespionage. Anders als ihre Kollegen im Ausland lobbyierten Schweizer Textilproduzenten lange auch nicht dafür, ihre Designs und Techniken rechtlich zu schützen. Erst im 19. Jahrhundert wurde ein schweizerisches Patentrecht geschaffen.
Ein Grossteil der Schweizer Indiennes-Produktion ging in den Export. Fabrikanten wie Laué schickten ihre Handelsagenten mit Musterbüchern in die europäischen Handelsstädte, um Aufträge zu akquirieren und den Geschmack der Kundschaft möglichst zu treffen. Durch diese Präsenz von Neapel bis Kopenhagen und von Bordeaux bis Leipzig hätten sich die Schweizer für ihre lokal produzierten Indiennes Absatzmärkte in Asien, Amerika und Afrika erschlossen, weiss die Berner Historikerin Gabi Schopf: «Sie trugen aktiv zum
weltweiten Textilhandel bei und dockten das Alpenland an die frühneuzeitliche Globalisierung an.» Der kommerzielle Erfolg hatte freilich auch eine Schattenseite: Schweizer Indiennes dienten auch als Tauschware im internationalen Sklavenhandel. Die Indiennes sind ein erstaunlich facettenreiches Thema, ein Stoff, der Mode, Wirtschaft und Gesellschaft veränderte. Vor dem Hintergrund aktueller Kontroversen um Personenfreizügigkeit, Abschottung oder Öffnung zeigt die historische Forschung, wie global die Schweizer Wirtschaft schon lange vor Industrialisierung und Digitalisierung agierte.
Ausstellung Indiennes im Schweizerischen Nationalmuseum bis 14. Oktober 2018
Susanne Wenger ist freie Journalistin in Bern.