Die Gefahren des simulierten Wissens
Simulationen haben einen neuen Zugang zum Wissen eröffnet und analoges Wissen an den Rand gedrängt. Die bildliche Wiedergabe hat aber auch das Potential, die Grenzen zwischen reiner Visualisierung, Fiktion und bewusstem Betrug zu verwischen, schreibt Antonio Loprieno.
Was haben Fake News, Peter Stamms «Sanfte Gleichgültigkeit der Welt» und das geologische 3D-Modell miteinander zu tun? Mehr, als man denken würde: Wissenseinheiten werden in Fragmente zerlegt, um sie emotional in den Griff zu bekommen. Im Fall von Fake News bedeutet dies, jene Merkmale einer Information zu selektieren, die den Algorithmen ihrer Akzeptanz entsprechen. In Peter Stamms Fiktion begegnet ein Mann seinem von ihm dissoziierten künftigen und vergangenen Selbst. Im 3D-Modell ermöglicht die Kombination eines breiten Spektrums an Daten die Visualisierung von Weltzusammenhängen, die die unmittelbare Wahrnehmung transzendieren. Durch ihre Verbildlichung werden Sachverhalte so modelliert, dass ihre Details de- und rekonstruiert werden.
Die ursprünglich technologische, nun auch gesellschaftlich relevante Innovation, die wir «Digital Turn» nennen, hat auch einen neuen Zugang zum Wissen eröffnet, der sowohl unerhörte wissenschaftliche Potenziale als auch besorgniserregende gesellschaftliche Gefahren birgt: die Simulation. Durch die bildliche Wiedergabe von Sachverhalten werden auch Emotionen geweckt, Bildung wird durch Einbildung ergänzt. Die Grenzen zwischen Simulation als wissenschaftlicher Visualisierung, als literarischer Fiktion und als bewusstem Betrug werden fliessender als je zuvor.
Die Simulation hat den analogen Zugang zum Wissen an den Rand gedrängt und fordert nun die Spielregeln von Information, Kunst und Wissenschaft heraus. Oberstes Gebot ist nicht mehr die Nachahmung einer Realität historischer, sozialer oder wissenschaftlicher Art, sondern die digitale Projektion von Zusammenhängen zwischen Wissensfragmenten. In dieser kognitiven Verschiebung liegt auch die potenzielle Berührung von Simulation und Postfaktischem: Eine Nachricht wird zu einem Post-Faktum, indem sie algorithmisch gesteuert wird; in der literarischen Fiktion wird die Erfahrung des Autors verarbeitet, wodurch sie post-faktische Züge annimmt; und ein geologisches 3D-Modell ist post-faktisch, weil seine hohe analytische Detailliertheit auf einer künstlichen Zerlegung zugrundeliegender Fakten basiert.
Schaffen wir es als wissenschaftliche Community, zwischen Vorteilen und Gefahren der Simulation unserer Gesellschaft Orientierung zu vermitteln? Eine mögliche Antwort lesen Sie in einer der nächsten Kolumnen in Horizonte!
Antonio Loprieno ist Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.