Unter Tage: Im fantastischen Reich der Erinnerung
Im Schweizer Untergrund ruht ein Teil der nationalen Identität. André Ourednik, Geograf und Science-Fiction-Autor, wirft mit Horizonte ein Blick in die Tiefe vergangener und aktueller Mythen.
Einerseits befasst sich André Ourednik wissenschaftlich mit dem bewohnten Raum und ist Lehrbeauftragter an der EPFL sowie an der Universität Neuenburg. Anderseits ist er Autor von Science-Fiction-Romanen, die oft im Erdreich spielen. Horizonte machte ich im Gespräch mit dem Geografen mit schechischen Wurzeln auf zu einer Entdeckungsreise in diese gleichzeitig konkrete und mystische Welt unter Tage.
André Ourednik, wie erleben Sie die Beziehung der Schweiz zu ihrem Untergrund?
Erstens: Der Untergrund ist ein Stück nationale Identität. Der Ursprung dafür liegt in der Fähigeit der Schweiz, Tunnel zu graben. Beispielsweise wird gerne betont, dass unsere Tunnel die längsten seien. Nur stimmt das nicht: Der Gotthard ist zwar der längste Eisenbahntunnel für Personentransporte unter einem Berg. Der längste Tunnel an sich aber ist die Linie 3 der Metro im chinesischen Guangzhou. Doch
davon spricht dort niemand. Den Chinesen st es egal, weil Tunnel nicht Teil ihres Nationalmythos sind.
Die Schweizer Obsession für Tunnel hat auch wirtschaftliche Aspekte. Das Land will Know-how exportieren, einen Marktwert beweisen. Wie beim Bau unterirdischer Schutzräume gegen Atomangriffe während des Kalten Krieges: Er war durch das Lobbying der Zementindustrie im Parlament gefördert worden. Sie machte sich für ein Obligatorium der Schutzunterkünfte stark.
Das Reduit im Zweiten Weltkrieg war nicht als Unterkunft für die Zivilbevölkerung bestimmt. Trotzdem glaubte sie daran. Zu Unrecht?
Der Untergrund verkörpert zwei übersinnliche Welten. Einerseits steht er seit der Epoche der Sumerer für das Totenreich und einen Ort, an dem nur überlebt, wer Gott oder Held ist, wie Gilgamesch, Amun-Re oder Orpheus. Andererseits wird er als Ort der Bewahrung der Schöpfung gesehen, aus dem eine neue Gesellschaft ervorgehen wird, sobald sich die Lage auf der Welt wieder aufhellt.
Im Alltag ist diese Vorstellung zum Beispiel in der Westschweiz mit dem Brauch des Carnotzet präsent, einem ausgebauten Weinkeller, der zu einem geselligen Rückzugsort wird. Abgeschnitten von der Aussenwelt und umgeben von Freunden schafft man sich eine eigene kleine Welt.
Im Extremfall führt ein solches Setting jedoch zu einer besonderen Form der Klaustrophobie, die etwa in U-Booten entsteht und allgemein an Orten, wo mehrere Personen lange eingeschlossen sind: Reizbarkeit, Besessenheit, Paranoia. Das ist der Albtraum vom nie endenden Tunnel.
Nach den Alpentunnels, dem Reduit und den Atomschutzräumen findet die spezielle Beziehung der Schweiz zu ihrem Untergrund heute ihre Fortsetzung mit Projekten zur Datenspeicherung.
Tatsächlich ist die Schweiz heute im Markt der Datensicherung sehr aktiv. Zum Beispiel mit dem Tessiner Unternehmen Dataverna, das einen Teil der Galerien, über die der Gotthard-Basistunnel während der Bauzeit versorgt wurde, gekauft hat und dort Server installieren will.
Seit Kurzem wird mit dem Begriff «Data Mining» die Bewirtschaftung und Auswertung von Daten bezeichnet. Fast scheint es, als ob diese Metapher Realität würde.
Einerseits scheint sich diese Metapher tatsächlich zu konkretisieren. Sie können das aber auch andersherum betrachten: Die materielle Dimension der Dinge, ergänzt durch althergebrachte Vorstellungen und Bräuche, bestimmt unsere Denkweise. Das zeigt sich in kleinen Dingen: Die Anordnung der Buchstaben auf der Computertastatur widerspiegelt die früheren Schreibmaschinen, bei denen gewisse Buchstaben bei zu geringem Abstand zu verklemmen drohten.
Traditionelle gesellschaftliche Praktiken prägen über die Stofflichkeit der Dinge weiterhin unseren Geist und unser Verhalten. Der Einfluss dieser Prägung kommt auch beim Tunnel zum Ausdruck. Ich arbeite für das Projekt Postcarworld an der EPFL, das die Hypothese einer autofreien Welt erkundet.
Dabei wird bald klar: Der 2016 in einer Volksabstimmung beschlossene Bau einer zusätzlichen Röhre durch den Gotthard wird uns in gewisser Weise zwingen, dieses Werk zu amortisieren. Der Tunnel wurde gebaut, weil es Autos gibt, und umgekehrt werden die Leute weiterhin lange Strecken im Auto zurücklegen, weil diese Möglichkeit besteht.
Die Logik, die dazu geführt hat, dass unsere Vorfahren Löcher in die Alpen gruben, ist ins Stoffliche gemeisselt und hat Bestand. Was uns zu einem letzten wichtigen Aspekt der Vorstellungen über das Reich unter Tage bringt: Die Welt kann sich verändern, aber die Materie bleibt, und was dort in Stein gemeisselt wurde, kann plötzlich wieder zum Vorschein kommen.
Wie die 7000 Tonnen Munition, die im Zweiten Weltkrieg im Munitionslager Mitholz im Berner Oberland versteckt wurden und 1947 mit fatalen Folgen detonierten – und wo noch immer ein Explosionsrisiko besteht.
Oder wie die Dokumente der Geheimarmee P26, die im Musée Résistance Suisse in Gstaad liegen. Das Museum wurde im November 2017 in Anwesenheit von Bundesrat Ueli Maurer genau in demjenigen Bunker eingerichtet, in dem diese Armee ihr Ausbildungszentrum hatte. Die Archivbestände über diese Organisation hat der Bundesrat für geheim erklärt. Diese war dafür zuständig, im Falle einer Invasion durch den Warschauer Pakt den Widerstand zu orchestrieren. 2041 werden die Akten aber offengelegt.
Unter der Erde haben wir also nicht nur unsere Erinnerungen eingebunkert, sondern auch vergangene Pläne und Kämpfe gegen einen mehr oder weniger mythischen Feind, der nicht mehr existiert. Im Fantasiereich des Untergrunds kann dieses Szenario jedoch wieder zum Leben erweckt werden, ähnlich wie der Panzer im Film «Underground» von Emir Kusturica, der lange nach dem Zusammenbruch von Jugoslawien aus einem Tunnel kommt, noch immer auf Krieg programmiert ist und sich einen Feind sucht.
Sie haben in Ihrem literarischen Werk unterschiedlichste Arten von Untiefen ausgelotet.
Ein erstes Mal in meiner Novelle «Naufrage», in der die Figuren in einem Schiff durch Wassertunnel durch die unterirdische Schweiz reisen. Die Idee geht auf zwei nationale Mythen zurück: die Schweiz als einzige Verbindung durch die Alpen und das Reduit, das alpine Festungssystem, das die Verteidigung des Landes im Zweiten Weltkrieg sicherstellen sollte.
Eine weitere Inspirationsquelle für diesen Text war die 1952 erschienene Novelle «Der Tunnel» von Friedrich Dürrenmatt. Der Protagonist reist im Zug von Bern nach Zürich, fährt in einen Tunnel, die Zeit geht vorbei, und plötzlich realisiert er, dass der Zug nach einer Stunde noch immer nicht am Tageslicht ist.
In meiner Novelle nehmen die Dinge ebenfalls einen düsteren Verlauf: Eine Wand stürzt ein – etwa so, wie wenn das Gerüst der idealen Schweiz zerbröckeln würde –, und das Schiff wird durch einen Wasserfall weggespült, in ein Loch, ähnlich wie bei Jules Verne. Die Besatzung gelangt dann in einen unterirdischen Raum, in dem Soldaten vergangener Epochen leben, von Winkelried bis General Guisan, versteckt und bewahrt im Schweizer Reduit.
Die ganze Szenerie in Ihrem Roman «Les cartes du boyard Kraïenski» spielt ebenfalls unter Tag.
Der Roman erzählt die Geschichte eines Schweizer Kartografen, der den Auftrag erhält, die Ostgrenze Europas festzulegen. Der Kartograf kommt in die Burg eines Bojaren, irgendwo in der Nähe der Ukraine, wo er eine Sammlung von alten Karten scannen muss, um den genauen Verlauf der Grenze zu bestimmen. Doch die Karten widersprechen sich, sie stimmen nicht miteinander überein, und ausserdem senkt sich die Burg langsam in den Untergrund.
Hier interessieren mich zwei Themen. Das eine hat mit einem Zweig der Geoinformationssysteme zu tun, die man als Geodäsie bezeichnet. Diese beschäftigt sich damit, die Koordinaten bestimmter Punkte auf der Erde regelmässig auszumessen. Diese Bezugspunkte wandern relativ schnell: Die Kontinentaldrift beträgt bis zu 10-15 Zentimeter pro Jahr, was immerhin rund 2 Kilometer seit der Gründung Jerichos entspricht. Ich bin fasziniert von der Unbeständigkeit des Bodens durch die Bewegung der tektonischen Platten. Die Grenzen bewegen sich nicht nur historisch, sondern auch geologisch unter dem Einfluss dieser Tiefenbewegung, was eine grundlegende Instabilität jedes Bezugssystems zur Folge hat.
Das andere Thema wird in der absinkenden Burg deutlich. Irgendwann geht der Protagonist ins Untergeschoss und entdeckt, dass sich die älteren Schichten des Schlosses im Lehm auflösen. Er wird damit konfrontiert, dass die Erde die oberirdisch geschaffene Realität verschlingen kann, dass jedes menschliche Projekt früher oder später wieder in dieser unbestimmten Masse aufgeht.
Sie verbinden ausserdem das fantastische Reich der Unterwelt mit der Welt der Megadaten.
Mein neuester Roman «Omniscience» aus dem Jahr 2017 spielt wieder unter der Erde, in einer Höhle, in der unbegrenzte Datenmengen in flüssiger Form gespeichert sind und wo Taucher narrative Fäden weben, während sie in dieses riesige Becken eintauchen.
Ein weiterer Roman wird bald erscheinen, ein Text, der im Zusammenhang mit der Arbeit «Atomik Submarine» des Künstlers François Burland steht. Er hat ein 18 Meter langes Modell eines sowjetischen U-Boots gebaut, das die Angst vor dem roten Feind verkörperte. In der Schweiz der 1970er und 1980er Jahren fürchteten die Menschen, dass dieser Feind jederzeit irgendwo auftauchen könnte.
In diesem Roman befinden wir uns wieder unter der Erde und treffen auf Gabi I und Gabi II – die Namen zweier Tunnelbohrmaschinen, die den neuen Gotthardtunnel gruben –, die weiter bohren, ohne dass wir wissen, warum. Sie sehen, das Wühlen geht weiter.
Nic Ulmi ist freier Journalist und wohnt in Genf.