«Die grösste Behinderung steckt in den Köpfen»
Alireza Darvishy von der ZHAW ist seit einem Unfall sehbehindert. Früher sprachen seine Mitstudierenden für ihn Lehrbücher auf Kassetten, heute forscht und berät er Unternehmen und Behörden zum Thema Inklusion.
Alireza Darvishy, wie reagieren die Studierenden auf Ihre Sehbehinderung?
Ich erzähle ihnen bei der ersten Vorlesung von meiner Sehbehinderung. Sie müssen sich bei einer Frage an mich schliesslich akustisch bemerkbar machen. Sehen Sie es so: Ein Professor, der im Hörsaal vor den Studierenden steht, sie fast nicht sieht, und dabei auch noch gelegentlich lacht? Sie können damit umgehen.
Wer hat Sie gefördert?
Meine Eltern haben mich nach dem Unfall ermutigt, meine Ambitionen nicht aufzugeben. Ich war damals noch Gymnasiast. Meine Mutter hat jede Nacht mit mir gelernt. Nach der bestandenen Maturitätsprüfung in meinem Heimatland Iran reiste ich als 18-Jähriger allein in die Schweiz. Zuerst lernte ich Deutsch, danach bestand ich die Schweizer Maturitätsprüfung und durfte in Zürich studieren.
Bekamen Sie in der Schweiz institutionalisierte Hilfe?
Nein, als Ausländer hatte ich damals keine Versicherungsleistungen zu erwarten. Ich lernte jedoch viele Studierende kennen, die sich spontan bereit erklärten, mir Lehrbücher auf Kassetten zu sprechen. Ständig trug ich ein Aufnahmegerät bei mir, und fast alle Dozenten waren einverstanden, dass ich ihre Vorlesung aufzeichnete.
Wie erleben Sie die Schweiz heute bezüglich Barrierefreiheit, also dass alle zu allen öffentlichen Angeboten Zugang haben?
Das Land ist dank internationalen Netzwerken und neuen Gesetzen offener geworden. 2014 wurde das Übereinkommen der UNO über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Aber es ist noch nicht so, wie es sein könnte.
Wo sind die grössten Defizite?
Die grösste Behinderung steckt in den Köpfen der Menschen. Mit Gesetzgebung und Technologie allein ist es nicht getan. In Mitteleuropa neigen die Menschen zu Perfektionismus. Dabei sind wir von Natur aus alles andere als perfekt. Menschen mit Behinderung wollen am Leben teilhaben und ihre Würde bewahren.
Was schlagen Sie vor?
Im Projekt «Lehren und Forschen an der Hochschule – barrierefrei!» wird ein Leitfaden mit Vorschlägen dazu erstellt, was Hochschulen tun können, damit Forschende und Lehrende mit Behinderungen gleiche Chancen bekommen. Mein Team wird dafür eine digitale Plattform aufbauen. In die Applikation gehören Informationen, Blogs von Betroffenen und eine sogenannte Matching-Plattform. Sie schlägt eine geeignete Begleitperson vor, die sich beispielsweise für eine Tagung zur Verfügung stellt. Das Projekt wird weitere Barrieren für Akademiker mit Beeinträchtigung beseitigen.
Was bedeuten Barrieren für Ihren Alltag?
Es sind teilweise kleine Alltagshandlungen, die schwierig sind. Etwa den Beamer im Hörsaal anzustellen. Dafür müsste eine Technologie entwickelt werden. Warum nicht eine Sprachsteuerung? Ich kann meine wissenschaftlichen Mitarbeiter nicht ständig um Hilfe bitten. Die Suche nach Eigenständigkeit und das Streben nach Normalität sind energieraubend und nagen oft an der Würde. Trotz dieser Barrieren will ich aber allen Mut machen zu einer akademischen Laufbahn. Bildung überwindet schliesslich Barrieren, lässt Opferrollen verblassen und vertilgt Diskriminierung. Bildung und Technologie sind die Voraussetzungen dafür, dass alle Menschen willkommen sind und niemand ausgegrenzt wird.
Franca Siegfried ist wissenschaftliche Beraterin der Akademien der Wissenschaften der Schweiz.