Fokus: Die Verwandlung von Big Science
Sechs Megaprojekte der Wissenschaft
Von der Genetik zum Weltraum: Lektionen aus sechs Forschungsunterfangen der Superlative.
International Thermonuclear Experimental Reactor – ITER
Dauer und Ort: 2006–2025, Cadarache (F)
Ziel: Nachweis der wissenschaftlichen und technischen Machbarkeit der Kernfusion als neuer Energiequelle.
Superlative: Komplexestes wissenschaftliches Projekt aller Zeiten. Es soll sozusagen eine «Sonne auf der Erde» entzündet werden.
Anwendungen: Gewinnung sauberer Energie in praktisch unbeschränkten Mengen. Geschätzte Kosten: 20 Milliarden Euro. Akteure: CN, EU, IN, JP, KR, RU, USA. Zwischenfälle: Gouvernanz-, Konzept- und Budgetprobleme mündeten 2015 in einen Managementwechsel.
Grenzen: Breite Kritik ernten die technischen Hürden. Bedenken gibt es auch zur Sicherheit der Technologie, und man sorgt sich, dass andere Forschungsgebiete der erneuerbaren Energien vernachlässigt werden oder dass private Initiativen dem Projekt zuvorkommen.
Human Brain Project – HBP
Dauer und Ort: 2013–2023, EPFL
Ziel: Die Funktion des menschlichen Gehirns mit einem Supercomputer nachbilden.
Anwendungen: Medizin, Informationstechnologien. Geschätzte Kosten: 1 Milliarde Euro.
Akteure: EU, die EPFL und rund hundert Forschungsinstitute in rund zwanzig Ländern.
Zwischenfälle: 2014 unterzeichneten 750 Forschende einen offenen Brief an die Europäische Kommission, in dem die Vernachlässigung der kognitiven Neurowissenschaft kritisiert wurde. Dies hatte eine Neuausrichtung des Projekts, eine Anpassung seiner Führung und eine Neudefinition der Ziele zur Folge. Im August 2018 kam es durch den Rücktritt des Geschäftsführers Chris Ebell zu einer neuerlichen Krise.
Grenzen: «Es hat sich eine Logik durchgesetzt, die sich an industriellen Projekten orientiert. Die Europäische Kommission fordert, dass diese Plattformen ‹Produkte› liefern. Ich bin jedoch nicht sicher, ob dieser technologieorientierte Ansatz geeignet ist, Antworten auf die grossen wissenschaftlichen Fragen zu finden, vor die uns das menschliche Gehirn stellt», schreibt Yves Frégnac, der frühere Koordinator des Projekts für das CNRS.
Human Genome Project
Dauer und Ort: 1990–2003, international
Ergebnis: Vollständige Bestimmung der DNA-Sequenz des Menschen.
Superlative: Die grösste Zusammenarbeit der Biologie aller Zeiten.
Anwendungen: Medizin, Forensik, Sequenziertechnologie. Kosten: 2,7 Milliarden USD (weniger im veranschlagten Budget von 3 Milliarden).
Akteure: Die US-amerikanischen National Institutes of Health, die britische Stiftung Wellcome Trust, rund zwanzig Forschungszentren (CN, DE, FR, JP, UK, USA).
Zwischenfälle: Es kam zu einem Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem Unternehmen Celera Genomics von Craig Venter, das plante, für den Zugang zu den Ergebnissen Geld zu verlangen. Dies löste eine Debatte über den freien Zugang zu Genomdaten aus.
Grenzen: Die erwarteten medizinischen Anwendungen stellen sich zögerlich ein. «17 Jahre nach der ersten Veröffentlichung des humanen Genoms haben wir noch immer nicht alle Gene gefunden. Die Antwort ist komplexer, als wir uns das vorgestellt haben», schreibt der Bioinformatiker Steven L. Salzberg.
Large Hadron Collider am Cern
Dauer und Ort: 1954–, Genf
Ziel: Verstehen, woraus Materie besteht, woher sie kommt und welche elementaren Wechselwirkungen das Universum regieren.
Superlative: Der Large Hadron Collider hat einen Umfang von 26,6 km und beschleunigt Protonen auf 99,9999991 Prozent der Lichtgeschwindigkeit. Er generiert pro Sekunde 6 GB Daten.
Anwendungen: Neben dem Grundlagenwissen über Elementarteilchen verdanken wir dem Cern aber auch verschiedene Innovationen: Medizin (Bildgebung), Umweltwissenschaften (Sensoren) und natürlich Informatik (Verarbeitung von Big Data und Erfindung des World Wide Web im Jahr 1989).
Kosten: Budget pro Jahr 1,2 Milliarden CHF.
Akteure: 22 europäische Staaten und Israel.
Zwischenfälle: Das Cern beflügelt Fantasien vom Weltuntergang; sei es die mögliche Entstehung eines Schwarzen Lochs, das unseren Planeten verschlingt, oder die Konstruktion einer Antimaterie-Bombe.
Grenzen: Der Nachweis von Higgs-Bosonen im Jahr 2012 war ein triumphaler Erfolg. Trotzdem war er ein Problem: Die moderne Teilchenphysik braucht Überraschungen, um eine grosse universelle Theorie entwickeln zu können. Wäre das Higgs-Boson nicht gefunden worden, wäre dies die wahre Überraschung gewsen und hätte ein wichtiger Impuls sein können.
Internationale Raumstation – ISS
Dauer und Ort: 1993–2028, im Orbit
Ziele und Ergebnisse: Untersuchung der Anpassung des Menschen ans Leben im Weltraum im Hinblick auf Mond- und Marsmissionen; internationale Zusammenarbeit; ständige menschliche Präsenz im Orbit während 18 Jahren.
Superlative: Teuerstes jemals gebautes Objekt.
Anwendungen: Materialwissenschaften, Energie, Meteorologie, Medizin, Weltraumtourismus.
Geschätzte Kosten: 150 Milliarden USD.
Akteure: die Nasa mit den Weltraumorganisationen von Russland, Europa, Japan und Kanada.
Zwischenfälle: Der Unfall der Raumfähre Columbia 2003 und Budgetprobleme verzögerten die Arbeiten. Im Februar 2018 kündigte die Administration Trump an, dass die ISS privatisiert werden soll.
Grenzen: Immer wieder flammt die Debatte über den effektiven Beitrag der ISS zur wissenschaftlichen Forschung auf. Zwar wurden ab 2010 mehr Studien an Bord durchgeführt. Das sei aber immer noch zu wenig für ein «überzeugendes Argumentarium, das die wissenschaftliche Forschung an Bord der ISS rechtfertigt», urteilte der Politologe William Bianco 2017.
Extreme Light Infrastructure
Dauer und Ort: 2013–2018, CZ/HU/RO
Ziele: Vier interdisziplinäre technologische Plattformen auf der Grundlage von Lasern; europäischer Zusammenhalt.
Superlative: die leistungsstärksten Laser der Welt.
Anwendungen: Materialwissenschaften, Medizin (Partikeltherapie), Vernichtung radioaktiver Abfälle.
Budget: 850 Millionen Euro.
Akteure: Europäische Union, Ungarn, Tschechien und Rumänien.