Das digitale Wissen disziplinieren
Wissensfragmente im digitalen Raum und Wissen in der analogen Welt müssen mit kritischer Vernunft unterschieden werden, sagt Antonio Loprieno.
Wir simulieren, um etwas klarer darzulegen, als wir es mit analogen Mitteln können; und wir simulieren, um etwas zu vernebeln, was wir lieber unbekannt lassen würden. Simulation ist sowohl Verbildlichung wissenschaftlicher Vorgänge als auch Verzerrung realweltlicher Sachverhalte. In meiner Kolumne im Horizonte 118 habe ich bereits auf dieses Paradox der digitalen Wende für unsere Wissenschaftskultur hingewiesen: die semantische Vielfalt des Begriffs Simulation.
Die digitale Wende hat unseren Zugang zum Wissen in dreierlei Hinsicht verändert. Unser Wissen ist bildlicher, sozialer und verfügbarer geworden. Das Wissen, das durch Bilder vermittelt wird, steht uns emotional näher als jenes, das durch Worte verdeutlicht wird. Das digitale Wissen ist auch sozialer als die traditionellen Wissensformen, weil es von einer Community – wie etwa jene der Wikipedia-Autoren – kontrolliert und gesteuert wird. Und schliesslich ist das digitale Wissen verfügbarer als sein analoges Pendant, weil wir grosse Datenmengen mit minimalem Zeitaufwand verinnerlichen und verwalten können.
Aber ist es wirklich das Wissen, das durch die Digitalisierung bildlicher, sozialer und verfügbarer wird, oder sind es nicht eher einzelne Wissensfragmente? Um sich zu Wissen zu verdichten, müssen Wissensfragmente nicht nur vermittelt, sondern vor allem gebündelt werden. Ohne kontextuelle Verbindung verlieren nämlich Wissensfragmente ihre potenzielle Verbindlichkeit und können leichter manipuliert werden. Digitales Wissen ist schnell zugänglich, aber nur in undisziplinierter Form.
Deshalb sprechen wir auch von Disziplinen, wenn wir uns auf wissenschaftliche Fächer beziehen: weil sich hinter deren einzelnen Wissensfragmenten eine sich jeweils ordnende Logik verbirgt, ein analoger Algorithmus, der uns erlaubt, in disziplinierter Form plausible von nicht plausibler Information zu trennen. Hinter dem disziplinierten Wissen steht immer der Glaube an dessen Plausibilität, die es von undisziplinierten Zufallsbefunden, Verschwörungstheorien oder nackten Zahlen trennt.
Wie unterscheidet man zwischen diszipliniertem Wissen und undisziplinierten Wissensfragmenten? Indem man die kritische Vernunft anwendet, die sich vom unkritischen Verstand durch die Überprüfung des Kontexts der jeweiligen Wissenseinheit abhebt. In unserer Arbeit in der Forschung, in der Lehre, in der Wissenschaftspolitik geht es also primär um Plausibilisierung. Wir müssen das reichlich vorhandene digitale Wissen analog glaubhaft machen: es zähmen, disziplinieren, in anschauliche Kanäle einlenken. Mühsam, aber spannend.