Fokus: Emotionen nüchtern betrachtet
Editorial: Die Emotionen der Forschenden beachten
Gefühle spielen am Forschungsplatz eine grosse Rolle, es gibt keinen reinen Homo scientificus, schreibt Judith Hochstrasser.
Kürzlich musste ich mich zwischen zwei Wohnungen entscheiden. Die eine ist riesig, hat ein Zimmer mehr als die andere und kostet trotzdem fast gleich viel. Die andere ist eher klein, dafür frisch saniert, und man hat einen schönen Weitblick.
Ich begann mittels innerer Strichlisten abzuwägen: Was spricht für die eine oder andere Wohnung, was dagegen? Doch dieses Abhaken von Argumenten brachte mich nicht weiter. Wie oft tricksen wir uns dabei selbst aus und führen extra auf derjenigen Seite mehr negative Punkte auf, wo unser Bauch «Nein» sagt? Schliesslich nahm ich mir einen Moment Zeit, schloss die Augen und stellte mich selbst in den Wohnungen vor. Wie fühlte ich mich dabei? Und schon war glasklar, wohin ich ziehen würde. Die kleinere Wohnung gab mir gleichzeitig ein Gefühl von Geborgenheit und Freiheit. Während die andere in mir einen Mix aus Verlorenheit und Beengung auslöste.
Ohne Emotionen können wir uns nicht entscheiden. Das haben kognitive Psychologen schon in den Sechzigerjahren herausgefunden. Dieses Wissen wurde in der Ökonomie lange ignoriert. Sie betrachtete den Menschen als Homo oeconomicus, dessen einziger Fokus die Nutzenmaximierung ist. Die Verhaltensökonomie wagte hier einen neuen Blick: Sie geht unter anderem davon aus, dass der Mensch nach Gefühl entscheidet. Daniel Kahneman, einer ihrer Begründer, erhielt 2002 dafür den Wirtschafts-Nobelpreis.
Heute werden Emotionen in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen rege erforscht. Doch sind Gefühle auch bei der Arbeit im Labor, im Hörsaal, im Institut wichtig. Herrscht zum Beispiel unmenschlicher Konkurrenzdruck oder wird gar gemobbt, so kann dies selbst leidenschaftliche Wissenschaftler vergraulen. Oder hochqualifizierte Wissenschaftlerinnen daran hindern, eine Stelle anzutreten, wenn sie etwa spüren, dass in dieser Abteilung Ungutes vor sich geht. Emotionen können also über Laufbahnen entscheiden. Es gibt keinen reinen Homo scientificus. Deswegen muss an Hochschulen alles dafür getan werden, um trotz kompetitiver Umgebung ein gesundes und respektvolles Arbeitsklima zu schaffen.