Der Physiker, der alles voraussagen will
Didier Sornette analysiert mit physikalischen Modellen Finanzmärkte, Epidemien und das Risiko von Industrieunfällen. Der Forscher kennt keine Berührungsängste und teilt sogar seine Fitnesstheorie.
Die Wände des kleinen Büros sind mit wissenschaftlichen Postern übersät: die Sonne, die Zelle, die Schwangerschaft, eine Grafik zur Executive Strategy, ein Satellitenbild unserer Gletscher. Diese Vielfalt widerspiegelt die Neugierde von Didier Sornette: «Man kann alles verstehen! Ich strebe nach treffenden Vorhersagen. Das zieht sich wie ein roter Faden durch meine Karriere.» Heute ist Sornette Leiter des Lehrstuhls für Entrepreneurial Risks an der ETH Zürich.
Auf dem Sofa liegen ein Helm und Lederhandschuhe. «Ich habe fünf Motorräder, zwei davon echte Monster mit 200 PS», erzählt der Physiker. «Eines beschleunigt in 2,6 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Alle sagen mir, dass das paradox ist für einen Risikospezialisten. Aber ich nehme die Gefahr ernst: Helm, Lederhandschuhe. Das ist passives Risikomanagement. Auf dem Motorrad ist auch dynamisches Management gefragt. Nicht fahren, sondern lenken: den Strassenbelag richtig einschätzen, den Wegverlauf der anderen Fahrzeuge antizipieren.» Die Erklärungen kommen Schlag auf Schlag – und bestätigen den ersten Eindruck: Sornette ist mit Leib und Seele Physiker. Auch privat regiert scharfe Logik, doch es bleibt Platz für Humor.
Baguettes und Drachenkönige
Sein aktuellstes und vielleicht grösstes Projekt: ein neues Forschungsinstitut, das er an der technischen Hochschule Sustech in Shenzhen aufbaut – im Herzen des chinesischen Silicon Valley. Das Zentrum vereint alle seine Interessen: Prognosen für Finanzmärkte und Erdbeben, Risikomanagement für Atomenergie und Industrieunfälle, Blockchain-Sicherheit, Modellierung von Epidemien. Und Soziophysik, die Sornettes Ansatz am besten resümiert: Er nutzt Konzepte aus der Physik und modelliert damit gesellschaftliche Phänomene wie die Ansteckung unter Tradern oder die virale YouTube-Videos.
Weshalb China? «Das Land ist wie ein eigener Planet, der alle grossen Probleme in potenzierter Form lösen muss: Demografie, Energie, Umweltverschmutzung. Auch unsere Zukunft hängt davon ab: Wenn China es nicht schafft, werden wir scheitern.» Ist es ihm unwohl, eine Regierung zu unterstützen, die ihre Bevölkerung gnadenlos überwacht und Millionen in Umerziehungslager schickt? «Was in Xinjiang geschieht, deckt sich nicht mit meinen Werten. Doch wir müssen begreifen, was China ausmacht: die Tradition der Dynastien, deren Sozialvertrag mit der Bevölkerung die Stabilität ins Zentrum stellt. Die Regierung will Ereignisse vermeiden, die Unzufriedenheit hervorrufen, und hört deshalb auch auf die Bürgerinnen und Bürger. So erklärte sie die Bekämpfung der Luftverschmutzung zu einer Priorität.»
Didier Sornette gesteht, dass er immer Baguettes bei sich habe, weil sie praktisch zum Essen seien. Und fährt dann gleich mit einem seiner Konzepte fort, das eher orientalisch anmutet: den Drachenkönigen. Das sind statistisch ebenso seltene wie verheerende Ereignisse, und sie werden durch einen Schneeballeffekt ausgelöst. Sie sind gemäss seinen Arbeiten manchmal vorhersehbar. «Komplexe Systeme sind meist chaotisch, weisen aber Prognosefenster auf. Diese sind jedoch schwer erkennbar, da viele der analysierten Signale nur Rauschen darstellen, das es zu ignorieren gilt. Doch in den Daten lassen sich Muster erkennen, die eine Trendwende ankündigen.»
Der Physiker hat eine Methode entwickelt, mit der sich eine Finanzblase identifizieren lässt, wenn sich ein Wert gemäss dem «log-periodic power law» verhält und einer bestimmten Kurve folgt. Damit lässt sich auch voraussagen, dass sie platzen wird. Zwischen 2009 und 2012 hat er verschlüsselte Prognosen zu Hunderten von Börsentiteln veröffentlicht. Ein in der Wissenschaft aussergewöhnlich transparenter Ansatz, der sowohl von Sornettes intellektueller Redlichkeit als auch von seinem Selbstvertrauen zeugt. Sechs Monate nach der Entschlüsselung erwiesen sich die Vorhersagen in 85 Prozent der Fälle als richtig.
Energie für mehrere Leben
Die Pensionierung empfindet der 62-Jährige als «merkwürdiges Konzept». Das passt zu seinem Portfolio. Neben der Leitung eines Teams von 21 Personen an der ETH Zürich ist er Honorarprofessor in Österreich, China und Japan, zudem berät er Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen. Weiter hat er vier Finanz- Start-ups mitgegründet und verwendet seine Forschungsergebnisse, um sein eigenes Geld an der Börse anzulegen. «Am Anfang war meine Motivation, dass ich alles verstehen wollte: Kenntnisse zusammentragen und Schlussfolgerungen ziehen. Dann reizte es mich immer mehr, auch konkretere Ergebnisse zu sehen. Nicht einfach nur einen weiteren Artikel zu publizieren, sondern Entscheidungsträger mit meinem rationalen Blick auf die grossen Fragen der Gesellschaft zu beraten.»
Hat ein Tag nicht zu wenig Stunden für all diese Engagements? «Ich lade meine Batterien beim Sport wieder auf. Jeden Morgen mache ich zehn Minuten Übungen auf meinem Balkon. In der Sommerhitze ebenso wie im Winter, manchmal mit den Füssen im Schnee!» Dasselbe um 18 Uhr. «Dann habe ich endlich Zeit, allein zu arbeiten, doch die Energie ist weg. Ich mache dann ein High Intensity Interval Training: Dabei strengt man sich während einiger Minuten maximal an. Das entspannt den Körper und versorgt ihn wieder mit Sauerstoff. So komme ich nochmals auf Touren und arbeite bis 20 oder 21 Uhr.» Im Winter fährt Sornette begeistert Skwal – «eine Art halsbrecherischer Monoski» – und im Sommer Kiteboard oder Wakeboard. Jede Woche lädt er zudem Freunde und Studierende zu einem Ausflug auf dem See ein.
Obwohl er seit 13 Jahren in Zürich lehrt, spricht der Franzose kein Deutsch. «Dafür viele andere Sprachen: Mathematik und Physik, Finanz und Biologie, Geologie. Jede Disziplin hat ihre eigene Kultur. Deshalb verspüre ich keinen Drang nach Ferienreisen: Verleidet mir ein Thema, wende ich mich einfach einem anderen zu.»