Frische Blicke auf die Schule

«Lehrplan 21», «Harmos» oder «Integriertes Lernen» – jeder kennt sie, keiner will sie. So könnte man zumindest meinen, überfliegt man den medialen Diskurs über Reformen im Schulsystem der letzten 20 Jahre. «Stoppt die Reformitis» war da zu lesen, man schrieb vom «Notstand in der Volksschule ». Viel Kritik, viel Unruhe, viel Ernüchterung machte sich da breit. Zu Recht? Schadet das Reformfieber der Bildung?

Urs Moser, empirischer Bildungsforscher, antwortet mit Gegenfragen: «Wer kann gegen frühe Bildung sein? Wer gegen die Bildungsgerechtigkeit?» Allerdings gesteht er ein, dass es ab 2000 zu besonders vielen Anpassungen gekommen ist. Das liege aber daran, dass vorher nahezu Stillstand geherrscht habe: «Erst in den 90er- Jahren wagte die Schweiz den Blick über die Grenze, etwa mit der Teilnahme an Leistungsvergleichen wie Pisa.» Erkenntnis: Nicht alles läuft optimal.

Auch für Bildungshistoriker Lucien Criblez sind Reformen notwendig: «Wenn sich die Gesellschaft ändert, muss sich die Bildung anpassen.» Er relativiert aber auch: «Wird das Tempo zu hoch, kann man die Effekte der Reformen noch schlechter messen als ohnehin schon.» Tatsächlich ist es schwierig nachzuweisen, ob Schüler nun dank einer Reform oder unabhängig davon besser rechnen können. Das bestätigt auch Moser, der viele Wirkungsstudien erstellt hat. Ausserdem ziehe jede Reform Folgeprobleme mit sich, die zu Kritik führen. «Kurzfristig gesehen werden diese Nebenwirkungen immer als ganz schlimm angesehen – langfristig gesehen merkt man: Es bleibt sehr beim Alten», so Moser. Sein Fazit: «Die Bildung ist durch die Reformen bei steigenden Anforderungen sicher nicht schlechter geworden. Eher besser.»

1970er: Gesamtschulen

GRÖSSERE DURCHLÄSSIGKEIT
Wie kam es dazu?

Im Fahrwasser der 1968er-Bewegung mit ihrer Institutionskritik und der Debatte um antiautoritäre Erziehung kamen staatliche Schulen mehr und mehr unter Beschuss. Kritisiert wurde etwa die Selektionspraxis. «Chancengleichheit war ein grosses Thema», so Bildungshistoriker Lucien Criblez. Eine Lösung schien in der Organisationsform zu liegen, nämlich in den Gesamtschulen, wo schwache und starke Schüler nebeneinander und voneinander lernen sollten.

Ergebnis

In der Schweiz wurden ab den 1990er-Jahren vor allem kooperative Modelle realisiert, bei denen Schülerinnen entsprechend ihrem Leistungsniveau einer Stammklasse zugeteilt werden. Bestimmte Fächer besuchen sie dann aber in sogenannten Niveaugruppen mit unterschiedlich hohen Anforderungen. Das Ziel war, die Durchlässigkeit zwischen Schultypen wie Real- und Sekundarschule zu erhöhen. Bis heute ist es den einzelnen Kantonen überlassen, ob und wie sie Gesamtschulen anbieten. Die Meinungen der Fachleute bezüglich ihrer Wirkung gehen weit auseinander: Die einen möchten die leistungsschwächeren Schüler besonders fördern. Die anderen meinen, die schwachen Schüler zögen die guten herab. Bildungsforscher Urs Moser meint: «Die Strukturreformen waren nur beschränkt wirksam. Denn: Schulleistungen sind weitgehend unabhängig von den Besonderheiten der Schulstrukturen. » Von Scheitern könne aber nicht gesprochen werden. «Tendenziell führt mehr Durchlässigkeit zwischen Leistungszügen zu einem Abbau sozialer Ungleichheiten.»

1990er: Berufsmaturität

AUFWERTUNG DER LEHRE
Wie kam es dazu?

Ab den 1950er-Jahren konnte die Wirtschaft ihren steigenden Bedarf an gut ausgebildeten Ingenieuren immer schwieriger befriedigen. Der Berufslehre liefen die guten Schüler in Richtung Gymnasium davon. In den 1970er- Jahren klagten die Höheren Technischen Lehranstalten (heute Fachhochschulen) dann über Nachwuchssorgen, während die traditionellen Hochschulen über Zulassungsbeschränkungen nachdenken mussten. Aus dieser Konkurrenz wuchs die Idee der Berufsmatura, die Mitte der 1990er-Jahre eingeführt wurde.

Ergebnis

Das Ansehen der Berufsbildung in der Öffentlichkeit wurde durch die Berufsmaturität gestützt, machte die Berufsbildung für leistungsfähige Jugendliche attraktiv und förderte die Bereitschaft von Betrieben, Lehrstellen anzubieten. Innert weniger Jahre entstand ein flächendeckendes Angebot. Mit der Einführung der Berufsmaturität und den Fachhochschulen auf der Tertiärstufe ist die berufliche Bildung deutlich aufgewertet worden. «Die Anzahl Menschen mit einer tertiären Ausbildung hat denn auch in den letzten Jahren zugenommen », so Bildungsforscher Urs Moser.

1990er: Lehrerbildung an Hochschulen

MEHR WISSENSCHAFT
Wie kam es dazu?

«Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte eine Phase grossen Personalmangels in den Schulen begonnen, der sich in den 1960er-Jahren stark zuspitzte. Um mehr Lehrpersonen ausbilden zu können, wurde eine ganze Reihe von Massnahmen realisiert», so Bildungshistoriker Lucien Criblez. Seither hat es unzählige Arbeiten an Konzepten, Inhaltsentwürfen und Empfehlungen zur Lehrerbildung gegeben. Man war der Meinung, dass der anspruchsvolle Beruf nach einer besonders fundierten und attraktiven Ausbildung verlange. Aber erst Anfang der 1990er-Jahre, bei steigender Mobilität im Inland und dem europäischen Integrationsprozess, wurde der Druck so gross, dass etwas geändert wurde. Criblez fügt an: «Man wollte auch die Diskriminierung von Schweizer Diplomen im Ausland verhindern.»

Ergebnis

Bis in die 1990er-Jahre gab es in vielen Kantonen die Lehrerseminare. «Neu ging man weg vom Seminar hin zur wissenschaftlich fundierten Ausbildung», so Bildungsforscher Urs Moser. «Die Kritik dazu betraf damals vor allem den mangelnden Praxisbezug. Allerdings stimmte das nicht. Der Praxisanteil der Pädagogischen Hochschulen ist nicht geringer geworden.» Auch die Diskussion kam auf, ob für die Arbeit im Kindergarten ein Hochschulstudium nötig ist. Von Verakademisierung war die Rede. Criblez weiss: «Einige hielten überschaubare Institutionen für sinnvoller als grosse Hochschulen. Und man wollte die Persönlichkeitsbildung im formbaren Jugendalter beibehalten.» Allerdings ist die Reform heute «erfolgreich umgesetzt», so Moser.

2007: Sonderpädagogik

INTEGRATION VON ALLEN
Wie kam es dazu?

«Bereits in den 1990er-Jahren konnte relativ eindeutig festgestellt werden, dass Kinder mit schwacher Leistung in Sonderklassen weniger gut gefördert werden als in Regelklassen und auch weniger gute Chancen für die Integration in den Arbeitsmarkt haben», sagt Bildungsforscher Urs Moser. Als logische Folge der vorangegangenen Reorganisation der Schulen wurde das sonderpädagogische Angebot in die Regelklassen integriert. Die Schulen mussten mehr Verantwortung übernehmen und sich nach den Bedürfnissen der Kinder ausrichten.

Ergebnis

Wilde Kinder, ruhige Kinder, Kinder mit besonderen Bedürfnissen – sie alle werden heute in derselben Schulklasse unterrichtet. Die Kleinund Sonderklassen wurden abgeschafft. «Es gab eigentlich nur eine Reform in den letzten Jahren, die äusserst gewagt war und die ein Umdenken in der Schule erforderte: die Inklusion. Dass man Sonderklassen auflöste und mehr Integration von der Schule verlangte, das war einschneidend», sagt Urs Moser. Dementsprechend war die Skepsis gegenüber der integrativen Schule gross: Sie werde einen Zusatzaufwand mit sich bringen, dem die Schulen nicht gewachsen seien, prophezeite ein Teil der Pädagogen damals mit Unterstützung des Verbands des Personals der öffentlichen Dienste. Ein Leistungsabfall der sogenannten normalen Kinder sei programmiert. Ob das stimmt, sei zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu beantworten. Und: Der öffentliche Diskurs dazu findet kaum noch statt.

2009: Harmos

FERTIG KANTÖNLIGEIST
Wie kam es dazu?

«In den letzten Jahrzehnten wurden die Menschen in der Schweiz immer mobiler. Daher wuchs die Notwendigkeit, die Schulen anzugleichen. Den Kindern und Lehrpersonen sollte bei einem Schulwechsel ein nahtloser Übergang möglich werden. Auf dem Bildungsweg sollte es keine Benachteiligung mehr durch die dezentrale Organisation geben», so Bildungshistoriker Lucien Criblez. Die Abstimmung am 21. Mai 2006 brachte denn auch die überwältigende Ja-Mehrheit von 86 Prozent zugunsten der Schulharmonisierung.

Ergebnis

Bei der «Interkantonalen Vereinbarung über die Harmonisierung der obligatorischen Schule», kurz: Harmos, lautet der Auftrag an die Kantone, die wichtigsten Eckwerte wie das Schuleintrittsalter, die Dauer der Grundausbildung, deren wichtigste Ziele sowie die Übergänge zwischen den einzelnen Schulstufen gesamtschweizerisch einheitlich zu regeln. Der bekannte «Lehrplan 21» gehört zu den Massnahmen von Harmos.

Trotz des eindeutigen Abstimmungsergebnisses weckte die geplante Harmonisierung des Schulsystems Ängste, sodass die Reform nicht gerade harmonisch ablief: Man klagte über Bildungsabbau und kritisierte den Übergriff von Bürokraten. Die Kantone fühlten sich in ihrer Autonomie bedroht, zudem hiess es, den Kindern werde wegen des obligatorischen Kindergartens die Kindheit weggenommen und die Schüler würden mit zwei Fremdsprachen in der Primarstufe überfordert.

«Zur Wirkung der zwei Fremdsprachen in der Primarschule gab es tatsächlich wissenschaftliche Grundlagen mit verschiedenen Ergebnissen », meint Bildungsforscher Urs Moser. «Die Forschung zeigt aber relativ eindeutig, dass ältere Schüler Zweit- und Fremdsprachen schneller lernen als jüngere, die maximale Kompetenz jedoch höher ist, wenn der Lernprozess früher einsetzt», so Moser.

Heute scheinen die Bedenken weitgehend hinfällig geworden zu sein. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren schreibt im Bilanzbericht von 2015: «Was im Zeitraum von nur sechs Jahren erreicht wurde, ist beträchtlich.» Das Fazit: Die obligatorische Schule war noch nie so weitreichend harmonisiert wie heute. Das Ziel, den nahtlosen Übergang von einer Schule zur anderen zu ermöglichen, wurde erfüllt. «Ein negativer Nebeneffekt ist trotz allem der grosse Aufwand bei der Umsetzung der Reform», meint Criblez.

2015: Lehrplan 21

KOMPETENZEN IM FOKUS
Wie kam es dazu?

Der Lehrplan 21 ist ein Instrument zur Harmonisierung der Volksschule (siehe Harmos, S. 21). Insgesamt 21 deutsch- und mehrsprachige Kantone haben sich dafür entschieden, den Auftrag, ihre Lehrpläne zu überarbeiten, gemeinsam umzusetzen. Der neue Lehrplan soll sicherstellen, dass die Ziele in allen Fachbereichen vergleichbar sind. Gleichzeitig haben die Kantone die Möglichkeit, ihn nach ihren Bedürfnissen anzupassen.

Ergebnis

Seit Ende März 2015 liegt die druckfertige Fassung der Vorlage vor. Es wurden vor allem Grundkompetenzen festgelegt, die Schüler erlernen sollen. Es gibt viel Kritik: Zu viele Kompetenzen, die erreicht werden müssen. Zu wenige Inhalte, die festgelegt wurden. «Darüber hinaus wurde viel mit dem Lehrplan 21 verbunden, das so nicht vorgesehen war. Beispielsweise das ausschliesslich selbstregulierte Lernen und die ständige Vermessung der Bildung», so Bildungsforscher Urs Moser. Fakt ist: Der Lehrplan enthält vieles, was sich bereits in den früheren Lehrplänen fand. Denn diese waren eine wichtige Quelle bei der Erarbeitung. Viele der gebräuchlichen Lehrmittel können weiterhin eingesetzt werden, und die Methodenfreiheit der Lehrpersonen wird nicht tangiert.

Zukunft: Digitalisierung

WANDEL DURCH TECHNIK
Wie kam es dazu?

Lernen mit Youtube, eine Schule ohne Mathe, weil Maschinen ohnehin besser rechnen können – es ist schwierig vorherzusagen, wie sich das Bildungssystem durch die Digitalisierung verändern wird. Bildungshistoriker Lucien Criblez ist überzeugt: «Die Technologiedebatte ist das grosse Thema der nächsten zehn Jahre. Aber es ist naiv zu glauben, dass man über Unterrichtsmedien Bildung verändern kann.» Auch Erziehungs- und Sozialwissenschaftler Klaus Rummler von der PHZH sagt: «Der schulweite Zugang zum Internet ist vor allem eine infrastrukturelle Neuerung.»

Ergebnis

Ein paar neue Möglichkeiten also, sonst eher alter Wein in neuen Schläuchen? Sicher wäre auch eine verstärkte Anpassung des Lehrplans nötig, um die Schüler auf die digitalisierte Gesellschaft vorzubereiten. Medienwissenschaftlerin Sarah Genner schrieb dazu in der NZZ, es müssten digitale Kompetenzen vermittelt werden wie kritisches Denken im Umgang mit Quellen aus dem Web, Sozialkompetenz in der Online-Kommunikation, Wissen über sichere Passwörter, Privatsphäre und die Fähigkeit, sich von permanenten Ablenkungen abzuschirmen. Sie ist aber zuversichtlich: Die Schweiz habe mit dem dualen Bildungssystem im Vergleich zu fast allen anderen Ländern im technologischen Wandel einen immensen Vorteil. «Die aktuellsten berufs- und branchenspezifischen Technologien können on the job erlernt werden.» Schon heute wird zudem stark aufgerüstet: Mit dem Lehrplan 21 wurden etwa das Modul und das Fach Medien und Informatik eingeführt. Und im Nationalen Forschungsprogramm «Digitale Transformation » ist Bildung ein Schwerpunkt.