Fokus: Ausgabe 124
Editorial: Hypothesen bleiben Hypothesen
Eine wissenschaftliche Disziplin kann als Symbolsystem ähnlich einer Religion betrachtet werden. Judith Hochstrasser, Ko-Leiterin von Horizonte, entwirft ein Gedankenspiel.
Es gibt unzählige Definitionen von Religion. Inspirierend ist diejenige des amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz: «Religion ist ein Symbolsystem, dessen Ziel es ist, starke, umfassende und dauerhafte Stimmungen und Motivationen im Menschen zu erzeugen, indem Vorstellungen einer allgemeinen Seinsordnung formuliert werden, die mit einer solchen Aura von Faktizität umgeben werden, dass die Stimmungen und Motivationen vollkommen der Realität zu entsprechen scheinen.»
Diese Definition als Gedankenspiel an Wissenschaften zu testen kann neue Perspektiven eröffnen. Symbole sind für Geertz «alle Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen, die Ausdrucksmittel einer Vorstellung sind». Ein wichtiges Symbolsystem ist die Sprache. Symbolischen Gehalt haben aber auch Handlungsabläufe des Alltags. Symbolsysteme sind Modelle von Realität. Dementsprechend kann eine wissenschaftliche Disziplin als Symbolsystem aus Gegenständen und Handlungen betrachtet werden; etwa die Chemie mit ihren Molekülmodellen und Experimenten. Oder die Geschichte mit ihren Begriffen und Ereignisabläufen.
Eine Seinsordnung muss keinen Gott enthalten, sondern kann die Annahme einer objektiven Struktur sein, die alles durchdringt. In gewissen wissenschaftlichen Disziplinen gibt es Ideen solcher Strukturen. In der Physik etwa postulieren manche eine Theorie von Allem, also etwas, was die ganze physikalische Welt durchdringt. Manche Historikerin geht davon aus, dass wir unsere Gegenwart ohne Vergangenheit nicht verstehen, dass die Vergangenheit alles durchzieht.
Nun kommt der Knackpunkt in diesem Gedankenspiel. Laut Definition werden die Vorstellungen einer Seinsordnung von «einer Aura von Faktizität » umgeben. Kann das auf Wissenschaften angewendet werden? Sicher nicht generell. Aber: Wird eine Theorie von Allem von der Physikerin als wahr postuliert? Oder eben als Theorie? Stellt eine Historikerin den Einfluss der Vergangenheit über alles? Oder macht sie deutlich, dass diese nur ein wichtiger Faktor ist? Entscheidend hierbei ist: Betrachtet die Wissenschaftlerin alles umfassende Vorstellungen ihrer Disziplin als Hypothesen, die sie an der Realität testet, durch die sie neue Kenntnisse gewinnt? Oder hat sie diese zu glauben begonnen?
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