Fokus: Glauben in der Wissenschaft
Michael Hagner: «Jede Generation muss hinterfragen, was sie glaubt»
Die Abgrenzung von Glauben und Wissen ist schwierig. Der Wissenschaftshistoriker Michael Hagner erkennt darin gleichzeitig eine Herausforderung und eine Chance.
Michael Hagner, spielen Glaubensfragen in der Wissenschaftsgeschichte eine Rolle?
Ich würde zuerst zwei Arten von Glauben unterscheiden. Die eine ist banal: Das Vertrauen, dass wir uns als Forschende auf die Ergebnisse der anderen verlassen können. Da wir nicht alle Versuche selbst wiederholen können, glauben wir, dass die Methoden und die Daten unserer Kolleginnen und Kollegen korrekt sind. Ohne dieses Vertrauen kann Wissenschaft nicht funktionieren. Und es muss von den religiösen, kulturellen, politischen und sozialen Überzeugungen unterschieden werden. Diese zweite Kategorie spielte in der Geschichte der Wissenschaft ebenfalls eine Rolle, mit negativen wie positiven Auswirkungen.
Wo waren die negativen Auswirkungen besonders stark?
In der Geschichte der Neurowissenschaften führte eine falsche Überzeugung dazu, dass im Gehirn nach Zeichen für Kategorien wie Geschlecht oder Rasse gesucht wurde. Die Autorität der Hirnforschung sollte zur Rechtfertigung der Behauptung dienen, dass Frauen den Männern und andere Völker den europäischen Völkern unterlegen sind. Solche Ideen waren kein einmaliger Unfall in der Geschichte der Neurowissenschaften, vielmehr gaben sie der Forschung seit Ende des 18. Jahrhunderts die Richtung vor. Die Ausmessung – oder falsche Vermessung, um den Begriff des Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould zu verwenden – von Schädeln, Gehirnen, Gehirnwindungen und der Zellarchitektur der Hirnrinde zielte zumindest teilweise darauf, mutmassliche intellektuelle und moralische Unterschiede zwischen den Geschlechtern und Rassen zu belegen. Die traumatische Erfahrung des Holocaust brachte die Neurowissenschaft dazu, ihre Überzeugungen zu überdenken. Aber jede neue Generation von Forschenden muss hinterfragen, was sie glaubt. Die heutige Neurowissenschaft muss sich der Fallstricke der Vergangenheit bewusst sein und mit ihren Aussagen umsichtig vorgehen.
Haben die Überzeugungen von damals heute keinen Einfluss mehr?
Doch. Der Rassenbegriff wurde zwar bereits zwischen Ende der 1940er-Jahre und Anfang der 1950er-Jahre fallengelassen. Bei Geschlecht beziehungsweise Gender ist die Situation aber komplizierter. Es gibt immer noch Neurowissenschaftler mit der Ansicht, dass es signifikante kognitive und psychologische Unterschiede zwischen dem männlichen und weiblichen Gehirn gibt, während andere diese Sichtweise kategorisch verwerfen. Doch auch die Idee, dass gar keine solchen Unterschiede bestehen, ist genau genommen eine Überzeugung und wird vor allem in den Cultural Studies oder Gender Studies vertreten. Die Ergebnisse der empirischen Forschung zeigen jedoch, dass es sehr schwierig ist, überhaupt ein typisch männliches oder typisch weibliches Gehirn zu finden, oder aus Daten von Beobachtungen die Existenz bestimmter kognitiver Fähigkeiten abzuleiten.
Manchmal zögern Forschende, eine Überzeugung in Frage zu stellen, zum Beispiel den freien Willen …
Eine Debatte über die Willensfreiheit fand in den Neurowissenschaften im Kielwasser des Versuchs von Bejamin Libet 1983 statt. Er wurde gemeinhin so interpretiert, dass der freie Wille nicht existiert. Die Philosophie hatte das Konzept aber schon lange vorher in Frage gestellt. Trotzdem erweist sich die Vorstellung eines freien Willens als extrem widerstandsfähig. Warum? Weil er gesellschaftlich nützlich ist. Er gibt unserer Existenz und der Welt einen Sinn. Die Idee wurde von einigen Neurowissenschaftlern aufgenommen. Sie sahen darin den evolutionären Zweck, dass sich das Gehirn – falscher oder richtiger – Ideen bedient, um unsere Überlebensfähigkeit zu erhöhen. Der Glaube an die Willensfreiheit wäre demnach ein Ergebnis der natürlichen Selektion, weil er uns einen Vorteil bringt. Ich bezweifle jedoch, dass diese Position irgendwie wissenschaftlich nachgewiesen werden kann. Sie ist nicht mehr als eine Überzeugung.
Wird es die Wissenschaft nie schaffen, sich ganz vom Glauben zu lösen?
Wir haben bisher darüber gesprochen, dass Überzeugungen einen Einfluss auf die Wissenschaft haben, und es ist wichtig, sich dessen bewusst sein. Nun muss auch betont werden, dass die Wissenschaft mächtige Werkzeuge zur Bekämpfung von Vorurteilen hervorgebracht hat, indem sie ein äusserst zuverlässiges System zur Produktion von Erkenntnissen entwickelt hat. Aber perfekt ist dieses System nicht. Es kann versagen, was die meisten wissenschaftlichen Ergebnisse gleichzeitig zuverlässig und provisorisch macht. Und es gibt in unserer Gesellschaft Kräfte, welche die Idee nicht akzeptieren, dass Wissenschaft die verlässlichste Quelle für Themen wie den anthropogenen Klimawandel ist. Dieser letzte Punkt erschwert die Diskussion. Wenn wir uns auf eine rein historische und erkenntnistheoretische Ebene begeben, gelangen wir unausweichlich zum Schluss, dass Wissenschaft nicht frei von Überzeugungen sein kann. Aber wenn man dies in einem politischen Kontext sagt, ist es für Klimaleugner und andere Fundamentalisten einfach, dieses Zugeständnis für ihre eigenen Zwecke zu missbrauchen. Dies ist das Dilemma, mit dem sich heute ein historischer Epistemologe wie ich auseinandersetzen muss.
Sie sagen, dass Überzeugungen in der Geschichte der Wissenschaft auch positive Wirkungen hatten. Welche?
Überzeugungen können ein Motor für neue Ideen sein und zur Erschliessung von Gebieten beitragen, welche der Mainstream für nicht relevant hält. Mit anderen Worten: Überzeugungen sorgen dafür, dass das wissenschaftliche System komplexer und interessanter wird. Wenn das System zu starr und undurchdringlich ist, wird es früher oder später unproduktiv.
Der Begriff Pseudowissenschaft wird als Mittel verwendet, um zwischen anerkanntem Wissen und bloss wissenschaftlich daherkommenden Überzeugungen zu unterscheiden. Sie sprachen sich einst gegen die Verwendung des Begriffs aus. Haben Sie Ihre Ansicht geändert, nachdem Sie gesehen haben, in welchem Ausmass die Neuen Medien zum Sprachrohr pseudowissenschaftlicher Überzeugungen wurden?
In der Studie von 2008, auf die Sie anspielen, habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass es Philosophie und Wissenschaft nicht gelungen ist, eine klare und eindeutige Grenze zwischen Wissenschaft und Pseudowissenschaft zu ziehen. Heute machen es die digitale Kommunikation und die sozialen Medien immer schwieriger, zwischen zumindest einigermassen zuverlässigen Erkenntnissen und Schlacke ohne Relevanz und Zuverlässigkeit zu unterscheiden. Das ist ein grosses Problem, aber ich glaube nicht, dass die epistemologische Kategorie der Pseudowissenschaft dieses zu lösen vermag. Wir müssen die kategorialen Unterschiede zwischen Erkenntnissen und diesen Abfallprodukten genau analysieren und beschreiben. Darüber hinaus sollten wir die Macht der fünf grossen digitalen Unternehmen beschneiden. Ihre monopolistische Macht ist so gross geworden, dass sie mehr und mehr an ein totalitäres Regime erinnern.