Wenn die Justiz kurzen Prozess macht
In der Schweiz werden inzwischen neun von zehn Strafen nicht mehr durch ein Gericht ausgesprochen, sondern direkt vom Staatsanwalt per Strafbefehl. Das Schnellverfahren entlastet die Justiz, doch neue Forschungsresultate werfen rechtsstaatliche Fragen auf.
Der Angeklagte vor Gericht, an seiner Seite die Verteidigung, die sich Rededuelle mit der Staatsanwaltschaft liefert: Es geht um Schuld und Unschuld. So stellen sich viele die Arbeit der Justiz vor. Doch der Schweizer Justizalltag läuft meist weit nüchterner ab. Der klassische Strafprozess ist die Ausnahme. Neun von zehn Strafen werden heute mittels Strafbefehl ausgesprochen, deutlich mehr als noch vor zwanzig Jahren. Die Staatsanwaltschaft erledigt den Fall direkt und überwiegend schriftlich. Auf eine vertiefte Untersuchung wird verzichtet, eine Gerichtsverhandlung findet nicht statt.
Dafür flattert den Betroffenen ein Urteilsvorschlag in den Briefkasten. Gerade mal zehn Tage haben sie dann Zeit, den Strafbefehl anzufechten. Unterlassen sie dies, «wird aus der Schuldhypothese des Staatsanwalts automatisch ein Schuldspruch», sagt Marc Thommen, Professor für Strafrecht an der Universität Zürich. Das sogenannte Strafbefehlsverfahren hat einen grossen Vorteil: Es entlastet die Justiz. Massendelikte wie im Strassenverkehr können speditiv abgewickelt werden. Auch Verstösse gegen das Ausländergesetz lassen sich zügig bewältigen, ebenso leichte bis mittelschwere Delikte aus dem Strafgesetzbuch: Ladendiebstähle, Schlägereien.
Über 120 000 Verurteilungen sprechen Schweizer Justizbehörden jährlich aus, die geringfügigen, bloss mit Bussen bestraften Übertretungen nicht mitgerechnet. Ohne Möglichkeit zum abgekürzten Verfahren würde die Justiz schlichtweg kollabieren. Auch manchem Übeltäter kommt es gelegen, wenn er nicht vor Gericht antraben muss. Der Weg über den Strafbefehl ist für den Angeklagten diskreter, den Staat kostet er weniger Zeit und Geld. Doch es gibt in der Rechtslehre seit jeher kritische Stimmen zu dem Schnellverfahren, das 2011 mit der neuen Strafprozessordnung schweizweit vereinheitlicht wurde.
Tausende Strafbefehle analysiert
Marc Thommen leitet ein Forschungsprojekt zu den Strafbefehlsverfahren. Er hält besonders die Machtkonzentration beim Staatsanwalt für problematisch. Dieser sei Ankläger und Richter zugleich: «Damit geben wir die Gewaltenteilung preis, eine wichtige Errungenschaft der Aufklärung.» Das Verfahren via Strafbefehl sei fehleranfälliger, da weniger gründlich nach Beweisen gesucht werde. Und es schränke die Rechte von Beschuldigten ein. Wer einen Strafbefehl erhält, kann zwar Einsprache erheben. Faktisch geschieht dies allerdings nur in wenigen Fällen. Und es führt selten dazu, dass eine strittige Strafsache doch noch von einem neutralen Gericht beurteilt wird. Das zeigen Erhebungen, die Thommen gemeinsam mit Forschenden der Universität Neuenburg durchführte.
Die Forschungsteams analysierten insgesamt fast 4700 Strafbefehle in den Kantonen St. Gallen, Zürich, Bern und Neuenburg. Die Datenfülle ist noch nicht ganz ausgewertet, erste Einblicke sind aber am Beispiel St. Gallen möglich. Sie zeigen: Keine zehn Prozent der Betroffenen wehren sich per Einsprache. Was danach geschehen soll, beurteilt wiederum die Staatsanwaltschaft. In knapp 15 Prozent der untersuchten St. Galler Fälle stellte sie das Verfahren ein. Bei rund einem Viertel erliess sie einen geänderten Strafbefehl. Lediglich zwanzig Prozent der ohnehin schon wenigen Einsprache-Fälle landeten schliesslich bei einem Richter.
Kann die tiefe Beschwerdequote bedeuten, dass Fehlbare ihr Urteil akzeptieren und das Verfahren als gerecht empfinden? Für Thommen eine denkbare Interpretation. Er sieht jedoch «einen ganzen Strauss» weiterer möglicher Gründe: Sprachprobleme etwa, da die Strafbefehle nicht übersetzt werden. Und Personen mit eingeschränkten Lesefähigkeiten könnten überfordert sein. Andere erreicht das Schriftstück gar nicht erst, weil sie ausser Landes sind. Sogar Unschuldige sehen womöglich davon ab, ihr Recht geltend zu machen, da sie negative Folgen befürchten. Thommen nennt das Beispiel eines Lehrers, dem fälschlicherweise vorgeworfen wird, illegale Pornografie zu konsumieren: «Beharrt er auf der Einsprache, wird das Verfahren öffentlich, und er riskiert den sozialen und beruflichen Tod.»
Jenseits von Bagatellfällen heikel
Mittels Strafbefehl kann die Staatsanwaltschaft Bussen und Geldstrafen aussprechen, aber auch Freiheitsstrafen von bis zu sechs Monaten. Der grösste Teil der untersuchten St. Galler Strafbefehle mündete in Geldstrafen. In einem von 14 Fällen verhängte die Staatsanwaltschaft indes eine Freiheitsstrafe, meistens unbedingt. Kommt dazu: Lediglich in zehn Prozent aller Fälle hatte der Staatsanwalt persönlich mit dem Beschuldigten gesprochen, bevor er den Strafbefehl abschickte. Ansonsten erging das Urteil aufgrund der Akten. Ausserdem zogen bloss knapp sieben Prozent aller Beschuldigten eine Anwältin bei. Für Monate hinter Gitter, nach minimaler Abklärung, ohne Anhörung, Richter und Rechtsbeistand? Da werde es heikel, sagt Thommen, das seien nicht mehr die Bagatellfälle, für die das Strafbefehlsverfahren einst gedacht war.
In der Frage der Einvernahme sind die Staatsanwälte frei, einen Beschuldigten anzuhören oder sich auf die polizeiliche Einvernahme zu stützen. In der Regel hänge es davon ab, ob noch mehr Informationen zum Sachverhalt benötigt werden, sagt Nora Markwalder, Assistenzprofessorin für Strafrecht an der Universität St. Gallen. Dabei könne die persönliche Befragung auch weitere Funktionen erfüllen: «Die Beschuldigten erhalten Gelegenheit, sich einzubringen.» Und der Staatsanwalt erfahre etwas über die Person.
Markwalder untersucht erstmals die Auswirkungen von Strafbefehlsverfahren mit und ohne Einvernahmen, beispielsweise, was die Dauer des Verfahrens und die Wahrscheinlichkeit einer Einsprache betrifft. Noch ist die Datenbasis schmal. «Unser Ziel ist es, Kosten und Nutzen der Einvernahmen darzustellen», erklärt Markwalder. Denn die Wirtschaftlichkeit der Verfahren spielt für die Justizbehörden eine wichtige Rolle, wie die Soziologin Mirjam Stoll in ihrer Dissertation an der Universität Basel nachweist. Stoll spricht von einem Umgang mit Kriminalität, «der neoliberalen Leitbildern folgt». Ein Grossteil der Verantwortung werde von der Justiz an die Beschuldigten delegiert, die von sich aus Einsprache erheben müssen: «Das entspricht der Forderung nach mehr Selbstverantwortung statt staatlicher Fürsorge.» Aus Sicht der Forscherin kann das zu sozialer Ungleichheit führen. Wer wenig gebildet, mittellos oder fremdsprachig sei, dürfte eher auf eine Einsprache verzichten als Beschuldigte, die den juristischen Fachjargon des Strafbefehls verstehen oder sich einen Anwalt leisten können.
Fairness sicherstellen
So unverzichtbar das Strafbefehlsverfahren in der Praxis ist: «Es muss fair gestaltet sein», fordert Strafrechtler Marc Thommen. Dazu sei die Schweiz auch völkerrechtlich verpflichtet. Ein Mittel dazu wäre aus seiner Sicht die Einvernahmepflicht. Exakt diese Korrektur schlägt jetzt auch der Bundesrat im Rahmen einer Teilrevision der Strafprozessordnung vor: Neu soll der Staatsanwalt Beschuldigte zwingend anhören, bevor er unbedingte Strafen verhängt. Der Nationalrat beschäftigt sich demnächst mit der Vorlage. Für Thommen stellt sich zudem die Frage, ob Justitias stetig wachsender Pendenzenberg auch anders als mit Effizienzdruck abgebaut werden könnte. Etwa durch die Entkriminalisierung leichterer Delikte oder dadurch, dass Verfahren um Lappalien abgehakt werden. Das Schweizer Strafbedürfnis sei vergleichsweise stark ausgeprägt, stellt der Wissenschaftler fest. Diskussionsstoff also für Gesellschaft und Politik. Auch Thommen will dranbleiben. Die «breite Masse» der Strafbefehlsempfänger sei bisher zu wenig erforscht worden. Es mag dabei nicht um grosse, spektakuläre Kriminalität gehen, wohl aber um fundamentale Verfahrensrechte und rechtsstaatliche Garantien.
Die Einvernahmepflicht, die Strafrechtler empfehlen und die neu auch der Bundesrat für bestimmte Fälle vorschlägt (siehe Haupttext), geht den Kantonen zu weit. Sie befürchten erhebliche Mehrkosten und wollen sich für einen Kompromiss einsetzen – «zwischen rechtsstaatlicher Perfektion und kostengünstigem Pragmatismus», wie Dürr sagt. Für den Basler Politiker ist das Strafbefehlsverfahren «nicht unfair», da Betroffene gegen den Urteilsvorschlag rekurrieren könnten.