Meinung: Wissen und Glaube sind restlos verschränkt
Ohne zu glauben, würden Forschende nur wenig finden, sagt Antonio Loprieno, ehemaliger Präsident der Akademie der Wissenschaften Schweiz.
Dieses Heft ist der Dialektik von Wissen und Glauben gewidmet. Wissen wird häufig als jenes «nachmetaphysische Denken» verstanden, das Jürgen Habermas als Hauptmerkmal gegenüber dem historisch vorausgehenden Glauben erkennt, der naturwissenschaftliches Wissen vor dem Hintergrund moralischer Werte deutete.
In dieser gängigen Interpretation wird der Begriff Glaube jedoch grundsätzlich auf die religiöse Denotation reduziert. Glauben kann man jedoch nicht nur an Gott, sondern etwa auch an den Sinn der eigenen Wissenschaft oder an die Plausibilität von Forschungsergebnissen. «Glauben» ist dann nicht als Gegenpol zu «Wissen» zu verstehen, sondern als Bedingung für dessen Verinnerlichung und emotionale Akzeptanz.
Glaube ist emotional geladenes Wissen. Glaube und Wissen stehen nicht in zeitlicher Sequenz (vom Glauben zum Wissen), sondern in zyklischer Rekursivität (vom Wissen zum Glauben zum Wissen und so weiter) zueinander. Auf der semantischen Zeitachse verhalten sich deshalb Glauben und Wissen ähnlich wie Suchen und Finden: Sie sind keine in sich geschlossenen Zustände, sondern Alternanzen von Activities und Achievements.
Gerade im Zeitalter der Simulation kann uns das Bewusstsein für das rekursive eher als das binäre Verhältnis von Wissen und Glaube Orientierung bieten. Denn wie die Auseinandersetzungen um die Deutungshoheit digitaler Rekonstruktionen zeigen, etwa von Venedig - Wer ist der Owner der visuellen Simulation, der Historiker oder die Informatikerin? -, sind häufig beide Communities überfordert, wenn die Einbettung von Glauben in die Generierung neuen Wissens verkannt wird.
Schon Aristoteles wusste (oder glaubte?), dass dem Menschen ein natürlicher Drang nach Wissen eingeschrieben ist. Wissen und Glaube sind restlos verschränkt: Wir Wissenschaftler sind auf steter Suche. Aber ohne zu glauben, werden wir wenig finden.