Fokus: Die Lehren aus der Pandemie
Caspar Hirschi: «Öffentlicher Streit unter Expertinnen muss in der Demokratie möglich sein»
Er beobachtet scharf, wie Wissenschaft und Politik zusammenspielen. Historiker Caspar Hirschi stellt in Frage, ob ihnen das gemeinsame Feuerlöschen während der Pandemie gelungen ist.
Seit der Coronakrise landen Epidemiologen und Virologinnen auf Titelseiten. Wie hat sich dadurch der Blick der Gesellschaft auf Experten verändert?
Vor der Krise war der Blick polarisiert. Es gab die Verklärung von Experten zu Wahrheitsverkündern oder gar Propheten, und es gab ihre Verteufelung zu Dienern des Establishments und Feinden der Demokratie. Die eine Seite befeuerte technokratische Illusionen, die andere populistische. Beste Beispiele dafür sind der Brexit und der Klimawandel. In der Coronakrise sah es zuerst so aus, als würde sich das Spiel wiederholen, aber dann setzte sich ein realitätsgerechteres Bild durch, in dem zugleich die Unerlässlichkeit und Begrenztheit des Expertenwissens sichtbar wurde. Ich hoffe, damit ist ein neuer Anfang gemacht.
Wer sind die Expertinnen und Experten der Pandemiezeit?
Erstmal ganz pragmatisch diejenigen, die als solche behandelt werden. Hier gibt es beträchtliche Unterschiede zwischen den Medien und der Politik, besonders in der Schweiz. Unter Journalistinnen hat sich schnell die Überzeugung durchgesetzt, es komme vor allem auf Epidemiologen und Virologinnen an. Die politische Verwaltung dagegen hat sich stärker auf Leute aus der klinischen Medizin gestützt, ohne das aber offensiv zu kommunizieren. Dies wiederum hat die Medien dazu veranlasst, der Politik vorzuwerfen, sie habe auf die falschen Personen gehört.
Haben Medien denn die besten Fachleute befragt?
Aus ihrer Logik heraus schon. Es waren telegene und verbal gewandte Männer, die schon zuvor auf Twitter mit medienwirksamen Statements aufgefallen waren. Ihre Erfahrung in wissenschaftlicher Politikberatung war aber teilweise mager, und auch der Forschungsausweis im Gebiet der Expertise war nicht immer so klar, wie es die Medien dargestellt haben. Isabella Eckerle, ausgewiesene Spezialistin für Coronaviren an der Universität Genf, hat in Le Temps gesagt, es gebe Männer, «die sich als Experten präsentieren, obwohl sie vor 2020 nie Forschungen über Coronaviren publiziert haben». Sie selbst war in Deutschschweizer Medien lange kaum präsent, obwohl ihre Muttersprache Deutsch ist.
In mehreren Ländern gab es öffentlichen Streit unter Fachleuten: Schadet das der Glaubwürdigkeit der Wissenschaft?
Diese Idee halte ich für falsch und gefährlich. Erstens entsteht ein irreführendes Bild von Wissenschaft, wenn nur Konsens nach aussen getragen wird. Zweitens begünstigt öffentliche Streitvermeidung die technokratische Illusion, es gäbe die eine wissenschaftliche Wahrheit, die von der Politik umzusetzen sei. Öffentlicher Streit unter Expertinnen muss in einer Demokratie möglich sein. Solange es um die Sache und nicht gegen die Person geht, erfüllt er eine politisch essenzielle Funktion. Entscheidend ist, dass sich streitende Forschende nicht von Dritten instrumentalisieren lassen.
Wer muss sich um ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Wissenschaft und Politik kümmern?
Beide Seiten. In der Schweiz bestanden von Beginn an gegenseitige Bedenken, und das trotz des glücklichen Umstandes, dass zwei erfahrene Epidemiologen an der Spitze von Nationalfonds und Akademien stehen.
Hat die nationale Covid-19 Science Task Force bisher effektive Arbeit geleistet?
Der Berner Ökonom Aymo Brunetti hat gesagt, in Krisen sei es besser, auf bestehende Strukturen zurückzugreifen, als neue zu schaffen. Beim Feuerlöschen müssen die Abläufe eingespielt sein. Es war deshalb gewagt, die Covid-19 Science Task Force mitten in der Krise ins Leben zu rufen. Erschwerend kam hinzu, dass sie auch die lautesten Kritiker des Bundes aufnahm, denen der Rollenwechsel zu offiziellen Politikberatern schwerfiel. In den Medien erscheint die Taskforce vor allem als Bedenkenträgerin zu den Lockerungsschritten. Dadurch entsteht der Eindruck, die Politik sei fahrlässig und die Forschung einflusslos. Es war aber wichtig, dass die Wissenschaft eine stärkere Rolle in der politischen Beratung eingefordert hat, doch sie hätte dafür die Strukturen und informellen Netzwerke nutzen sollen, die sie in Bern schon besass. Ihre öffentliche Sichtbarkeit wäre kleiner, ihr Einfluss aber womöglich grösser gewesen.
Sie haben vorher vor einer möglichen Instrumentalisierung der Forschenden durch die Politik gewarnt. Ist das auch passiert?
Dieses Problem stellte sich in Deutschland, aber nicht in der Schweiz.
Der deutsche Virologe Christian Drosten beschreibt sich ja als Navigator eines Schiffs, nicht als Steuermann. Wie kann der Unterschied der Aufgaben von Wissenschaft und Politik der breiten Öffentlichkeit verständlicher gemacht werden?
Indem die Fachleute selber detaillierten Einblick in ihre Tätigkeit geben. Das macht den Podcast des Norddeutschen Rundfunks mit Christian Drosten so wichtig. Man hatte vorher kaum je Gelegenheit, in Echtzeit zu verfolgen, wie Forschende unter hohem Zeit- und Erwartungsdruck neuste Studien bewerten, Hypothesen aufstellen, Ungewissheit thematisieren. So kann die Öffentlichkeit nachvollziehen, wie wichtig die Rollentrennung zwischen Experten und Entscheidungsträgerinnen ist. Zudem hat sich gezeigt, dass der Wissenschaftsjournalismus viel zum Verständnis der Rollentrennung beitragen kann.
Sollten nicht auch Politikerinnen die Aufgabentrennung klarer machen?
Selbstverständlich. Wenn ich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftsjournalisten hervorhebe, dann deshalb, weil ich ihnen ein höheres Problembewusstsein attestiere.
Um die Pandemie zu verstehen, wurden vor allem Naturwissenschaftler befragt. Werden andere Wissenschaftlerinnen vernachlässigt?
Aktuell kommen Leute aus den Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie Juristinnen zu kurz. Deren Aufgabe wäre es, das Potenzial von Kollateralschäden und die Langzeitfolgen der Pandemiepolitik einzuschätzen.
Was wird im Wissenschaftsbetrieb nach der Krise besser sein?
Positiv ist, dass die Beurteilung von wissenschaftlicher Qualität in die Öffentlichkeit zurückgekehrt ist. Involvierte Forschende haben sofort gemerkt: Es müssen mehr Leute an der Validierung von Forschungsresultaten beteiligt sein, und diese müssen sofort öffentlich gemacht werden – darum der Bedeutungsgewinn von Preprint-Servern und von Twitter, darum der Bedeutungsverlust von Peer Review.
Was wird sich verschlechtert haben?
Durch die Geschwindigkeit wächst die Gefahr, dass der Anspruch an die Qualität wissenschaftlicher Resultate sinkt, mit denen man an die Öffentlichkeit geht, und dass die Politikberatung auf sehr dünnem Eis stattfindet. Es braucht daher klare Standards, unter welchen Voraussetzungen wissenschaftliche Befunde politisch eingespeist werden dürfen.
Wie lautet Ihre Empfehlung?
Mein Vorschlag für einen neuen Konsens: Als Scientific Fact, der für die Politikberatung genutzt werden kann, darf ein Befund erst dann angesehen werden, wenn er die öffentliche Kritik unter Fachexperten heil überstanden hat. Das würde auch der wissenschaftlichen Diskussionskultur guttun.