PORTRÄT
Susan Gasser, die Optimistin im Unruhestand
Sie erforscht, woran sich Zellen erinnern. Und ermutigt Mütter zur wissenschaftlichen Karriere. Die Biologin Susan Gasser hat zudem noch viel vor.
Der Lockdown konnte Susan Gasser nichts anhaben – im Gegenteil: «Ich musste weniger reisen und hatte viel Zeit zu lesen und zu schreiben», sagt sie. «Das war schön.» Ihr Umgang mit den virusbedingten Einschränkungen ist auch Ausdruck für die Leidenschaft, mit sie ihrer Forschung nachgeht.
Dieser Enthusiasmus ist Gasser anzumerken, wenn sie über die Inhalte ihrer Arbeit spricht. Als eine der weltweit führenden Epigenetikerinnen untersucht sie, was sie das «Gedächtnis der Zellen» nennt: Umweltfaktoren wie Stress oder Ernährung werden in den Chromosomen gespeichert, indem sie bestimmte Gene aktivieren oder deaktivieren. Dies hat beispielsweise einen Einfluss auf das Altern oder auf die Entwicklung von Krankheiten. Die Epigenetik – ein vergleichsweise junges Forschungsgebiet – gibt auch Aufschluss darüber, wie diese durch Umwelteinflüsse erworbenen genetischen Eigenschaften vererbt werden können. Diese Erkenntnisse können unter anderem dazu beitragen, die Entstehung von Krebs oder altersbedingten Krankheiten besser zu verstehen und zu behandeln.
Zuerst die Neugier
Gassers Forschung über die Organisation und die Weitergabe von Geninformationen leistete wichtige Beiträge in der Zellbiologie und brachte ihr viele renommierte Preise ein, darunter den Nationalen Latsis-Preis, den Otto- Naegeli-Preis für medizinische Forschung und den Prix International de l’INSERM, der jährlich an herausragende internationale Forschende vergeben wird.
Doch obwohl die Arbeit ihr viel Freude bereitet, betont Gasser, wie steinig der Weg zu neuen Erkenntnissen sein kann. «Als Forscherin braucht man eine grosse Portion an Optimismus und Geduld», sagt sie. Denn oft würden die Experimente im Labor nicht funktionieren oder nicht die gesuchten Resultate ergeben. «In der Forschung macht man vieles falsch, bevor etwas klappt.» Treibende Kraft hinter diesem Durchhaltewillen ist für Gasser die Neugierde: «Man muss nach noch unentdeckten Dingen suchen wollen.»
Ihren Drang, die Welt zu verstehen, lebte die gebürtige Amerikanerin zunächst aus, indem sie sich an der Universität Chicago für ein Studium der altgriechischen Philosophie einschrieb. Später entdeckte sie ihre Neigung für die Naturwissenschaften und wechselte zu den Fächern Mathematik, Physik und Biologie.
Diese Neigung hat sich bis heute gehalten und bildete die Grundlage für Gassers wissenschaftliche Karriere. 1979 kam sie mit ihrem Verlobten, einem Schweizer, nach Basel, um beim Biochemiker Gottfried Schatz zu promovieren. Damals hätte sie nicht gedacht, dass sie so lange bleiben würden. «Eigentlich dachten wir, dass wir nach unseren Dissertationen wieder zurück in die USA gehen würden», sagt sie. Aber die Doktorarbeit eröffnete für Gasser weitere Karrierechancen in der Schweiz – zunächst in der Romandie, wo sie unter anderem am Schweizerischen Krebsforschungsinstitut und an der Universität Genf tätig war. Später leitete sie in Basel 15 Jahre lang das vom Pharmakonzern Novartis unterstützte Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research (FMI) und hat als Professorin für Molekularbiologie an der Universität Basel gearbeitet.
Neben ihrer Forschungstätigkeit ist für Susan Gasser auch die Förderung von Frauen in der Wissenschaft ein wichtiges Thema. Denn die akademische Berufswelt ist in der Schweiz nach wie vor eine Männerdomäne: je höher der universitäre Grad, desto kleiner der Frauenanteil. Dies liegt unter anderem an den Schwierigkeiten, Beruf und Familie zu vereinbaren – was Gasser als Mutter eines Sohnes im Verlauf ihrer Karriere selbst erlebt hat. «In der Schweiz ist es mit einem kleinen Kind relativ schwierig, wenn beide Elternteile arbeiten wollen», sagt sie. Dies liege an der schlecht ausgebauten und teuren Kinderbetreuung. Zudem würden in akademischen Karrieren meist in genau jenem Alter entscheidende Weichen gestellt, in denen Kinder ein Thema werden. «Das Universitätssystem vergisst jene Leute, die nicht mit schnellen Schritten Karriere machen.» So sei auch ihre wissenschaftliche Tätigkeit in den 1980er-Jahren sehr schwer mit ihrer Rolle als Mutter vereinbar gewesen. «Das hat sich seither zwar verbessert, aber noch nicht genug», sagt Gasser und fügt hinzu: «Es handelt sich um ein strukturelles Problem, das wir ändern können.»
Als Präsidentin der Gleichstellungskommission des Schweizerischen Nationalfonds initiierte sie deshalb beispielsweise ein Förderinstrument, das sich an herausragende Wissenschaftlerinnen richtet und jungen Frauen mit finanzieller Unterstützung und Coachings die Möglichkeit bietet, Familie und wissenschaftliche Karriere zu vereinbaren. Bei der Nachwuchsförderung hat Gasser im Verlauf ihrer Karriere schon immer ein grosses Augenmerk auf Frauen gelegt. «Ich habe immer viele Frauen angestellt und sie dazu ermutigt, ihre wissenschaftliche Karriere mit dem Familienleben zusammenzubringen.»
Die Institute der ETH weiterbringen
Frauenförderung in der Wissenschaft bleibt für Gasser auch in Zukunft ein wichtiges Anliegen. Unter anderem möchte sie die Gleichstellungsthematik mit ihrem Interesse für Japan verbinden und organisiert auf dem Inselstaat Kongresse über Epigenetik, an dem ausschliesslich Frauen wissenschaftliche Erkenntnisse präsentieren.
Die 65-Jährige hat also in ihrem Berufsleben noch immer viel vor. Im Moment leitet sie noch am Friedrich Miescher Institute ihre Forschungsgruppe, die anhand von Fadenwürmern Einflüsse auf die Organisation des Zellkerns untersucht. Auch als Mitglied des vom Bundesrat gewählten ETH-Rats, des strategischen Leitungsorgans der Eidgenössischen Technischen Hochschulen, möchte Gasser einiges bewegen. «Die Wissenschaft sollte dazu beitragen, die grossen gesellschaftlichen Probleme der Gegenwart zu lösen.» Dazu zählt sie etwa die Klimakrise, die schwindende Biodiversität und das Waldsterben. «Die Institute der ETH sind ausgezeichnet, aber sie könnten in diesen Bereichen noch Wichtigeres und Praktischeres leisten. Dafür setze ich mich ein.»
In diesem Sinne betont Gasser: «Ruhestand kann ich mir nicht vorstellen.» In Rente zu gehen ist für sie auch deshalb keine Option, weil sie ihre wissenschaftliche Tätigkeit selten als Arbeit verstanden hat: «Wissenschaft ist meine Leidenschaft, und wenn man sich mit seiner Leidenschaft beschäftigt, ist es keine Arbeit.»