Fokus: Die Lehren aus der Pandemie
Wie die Maske zum Zug kam
Die Wissenschaft liefert Fakten, die Politik stützt ihre Entscheidungen darauf. So bestechend das klingt, die Wirklichkeit ist chaotischer. Eine Auseinandersetzung mit der Einführung der Maskentragpflicht.
Die Erleichterung vieler Wissenschaftlerinnen und Journalisten war spürbar, als der Bundesrat für den 6. Juli eine Maskenpflicht im öffentlichen Verkehr verordnete. Lieber spät als nie, war der Tenor in den Kommentarspalten. Ob Hygienemasken tatsächlich Ansteckungen mit dem neuen Coronavirus verhindern, war bis dahin allerdings immer noch nicht klar.
Natürlich filtern Masken Partikel und Tröpfchen aus der Luft. Die Frage ist, ob das genügt, um Ansteckungen zu reduzieren. Bisherige Vergleiche zwischen Gruppen von Maskenträgerinnen und Gruppen von Nichtträgerinnen zeigen eigentlich ziemlich konsistent: Maskenträgerinnen stecken sich seltener an. Doch solche sogenannten Beobachtungsstudien haben einen Haken: Menschen, die vor der Pflicht im privaten Alltag freiwillig Masken tragen, ticken nicht wie der Rest der Bevölkerung. Wahrscheinlich verhalten sie sich vorsichtiger und leben in einer teureren und sichereren Umgebung als die meisten.
Auch wenn die verglichenen Gruppen Länder sind, gibt es viele solcher Störfaktoren: Südkorea und die Schweiz unterscheiden sich nicht nur bei der Einstellung zum Maskentragen.
Um alternative Erklärungen für niedrigere Ansteckungsraten auszuschliessen, muss nach dem Zufallsprinzip entschieden werden, welche Person zu welcher Gruppe gehört. Doch solche sogenannt randomisierten, kontrollierten Studien sind schwierig umzusetzen – besonders ausserhalb von Spitälern. Im Zusammenhang mit dem neuartigen Coronavirus interessiert aber genau das: Stecken sich normale Bürgerinnen, die mit durchschnittlicher Disziplin ausgestattet sind, im Alltag weniger an, wenn sie eine Maske tragen?
Die wenigen vorhandenen solchen Studien befassen sich mit dem Grippevirus. Dafür wurde zum Beispiel Familienmitgliedern von infizierten Kindern das Maskentragen verordnet. Eine systematische Übersicht über solche qualitativ hochstehenden Studien von Forschenden aus Hongkong fand am 6. Februar 2020 nur einen kleinen, statistisch nicht signifikanten Effekt. Irgendetwas muss den Nutzen der Filterwirkung in Alltagssituationen zunichtemachen. Vielleicht, dass der Abstand wegen der Masken nicht mehr eingehalten wird oder dass sich die Menschen öfter ins Gesicht fassen.
Dies war etwa der Stand des Wissens von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zu Beginn der Pandemie. Neben der zweifelhaften Wirksamkeit der Masken im Alltag mussten die Entscheidungsträger auch die Verfügbarkeit, die Kosten sowie die Einstellung und die Kompetenzen der Menschen in ihre Überlegungen einbeziehen.
Zwar wurden mehr Studien publiziert, aber keine randomisierten, kontrollierten und wenige zum neuen Coronavirus. Trotzdem hat sich die Stimmung bei den Wissenschaftlern im Verlauf der Pandemie verändert. Schliesslich gab es kaum Studien, die einen Schaden der Masken nachweisen konnten, wie etwa, dass wegen ihnen der Abstand nicht mehr eingehalten würde. Also lieber zur Sicherheit eine Maske tragen, selbst wenn sie möglicherweise nichts nützt.
Dieses Vorsorgeprinzip gewann Anhängerinnen, zum Beispiel in einer Analyse von britischen Forschenden am 13. Mai 2020. Die Empfehlung des BAG zum Maskentragen stand jedoch schon vor dieser Analyse auf den Präventionsplakaten – als endlich genügend Masken zur Verfügung standen. Derweil gab die WHO selbst eine Übersichtsarbeit zu Masken in Auftrag – nun ausschliesslich auf Coronaviren bezogen. Diese wurde am 1. Juni 2020 publiziert.
Doch bis dann standen immer noch nur Beobachtungsstudien zur Verfügung, insgesamt 26, und nur 3 davon betrachteten den Alltag – im Jahr 2002, während der Sars-Epidemie, die sich vergleichsweise wenig verbreitete. Zwei randomisierte, kontrollierte Studien zu Covid-19 waren Anfang Juni noch nicht abgeschlossen.
Trotzdem argumentierten die Autoren für ein allgemeines Maskentragen und passte die WHO nach der Übersichtsarbeit ihre Empfehlung an. Die nationale Covid-19 Science Task Force nahm in ihrer Empfehlung ebenfalls darauf Bezug.
Doch dann, Mitte Juni, begann die Zahl der gemeldeten Infektionen wieder zu steigen. Wissenschaftlerinnen auf Twitter übten mit emotionalen Voten Druck aus. Journalistinnen stimmten ein. Der Hashtag #TeamMask machte die Runde. Der Bundesrat reagierte und führte am 6. Juli die Maskenpflicht im ÖV ein. Dies, obwohl sich an der wissenschaftlichen Faktenlage zur Wirksamkeit des Maskentragens – im Alltag – bei Coronaviren in der ganzen Zeit nur wenig verändert hat.