MÄRZ-LOCKDOWN
Forschende im Ausnahmezustand
Zwei Monate lang stand das Leben still. Auch die Arbeit von Forschenden war auf unterschiedlichste Weise vom Lockdown im Frühjahr betroffen. Die einen konnten ihn als Chance nutzen, die anderen mussten einschneidende Entscheidungen treffen. Fünf Geschichten aus einer extremen Zeit.
«Ich konnte keine Grenzen öffnen, nur warten»
«Wir hatten gerade unsere Wohnung gekündigt und die Jobs auch, als der Bundesrat den Lockdown bekannt gab. Das kam zwar nicht ganz unerwartet, hat mich dann aber, als die USA die Grenzen schlossen, doch erst einmal ziemlich getroffen. Hatten wir gerade unser Leben in der Schweiz pausiert, ohne das neue antreten zu können? Eigentlich hätte am 1. Juni mein zweijähriges PostDoc Mobility Fellowship an der Michigan State University in den USA begonnen. Dort möchte ich meine Projekte weiterführen. Ich forsche dazu, wie sich Persönlichkeit, Gesundheit und persönliches Wohlbefinden gegenseitig beeinflussen, vor allem auch in engen Beziehungen. Am meisten zu schaffen machte mir in diesen Monaten, dass ich mich so machtlos fühlte. Ich konnte keine Botschaften oder Grenzen öffnen, nur warten.
Einmal überlegte ich sogar, ob ich Präsident Trump einen Tweet schicken sollte. Aber gebracht hätte das ja nicht wirklich etwas. Natürlich hätte ich auch im Homeoffice anfangen können, doch das ist nicht die Idee eines Forschungsaufenthalts im Ausland. Zum Glück reagierten alle Beteiligten grossartig. Ich konnte länger an der Universität Basel arbeiten als geplant, mein Mann konnte seinen Arbeitsvertrag ebenfalls zweimal verlängern, und wir wohnen mit unserem kleinen Sohn im Moment bei den Schwiegereltern in zwei Zimmern. Das ist zwar recht eng, aber Mitte September kamen endlich gute Nachrichten: Die Botschaft hat uns zugesichert, dass wir im November 2020 in die USA ausreisen können.»
«Ich fand es moralisch kaum noch vertretbar, meine Forschungsarbeit fortzusetzen»
«Ich las ständig die Nachrichten zu Covid-19 und verfolgte, wie die Situation in der Schweiz immer kritischer wurde. Als Tessiner las ich zudem die Zeitungen aus Italien, und dort war es noch schlimmer. Ich fand es moralisch kaum noch vertretbar, meine Forschungsarbeit mit Datenbanken in Paris einfach fortzusetzen. Eines Abends kontaktierte mich ein ehemaliger Arztkollege und sagte mir, dass es jetzt an der Zeit sei, das Labor zu verlassen und ins Feld zu gehen. Das war ein entscheidender Moment für mich. Ich ging also nach Locarno. Dort wohnen meine Eltern, und im örtlichen Spital wurden die an Covid-19 erkrankten Tessinerinnen und Tessiner betreut.
Ich kannte den Betrieb, denn ich hatte dort bereits am Ende meiner Ausbildung gearbeitet. In normalen Zeiten wurden in der Intensivstation vielleicht fünf intubierte Patienten behandelt. Jetzt waren es 70! Das macht natürlich betroffen. Aber als Arzt bin ich es gewohnt, unbeirrt zu tun, was zu tun ist. Also übernahm ich von März bis Mai die Aufsicht über die Abteilungen Infektionskrankheiten und Spitalhygiene. Weil es nur eine weitere Infektiologin im Spital gab, wurde mein Wissen sehr geschätzt. Ich bin froh, dass ich meine Forschung unterbrochen habe und etwas für die Tessiner Bevölkerung tun konnte. In einer solchen Situation ist es doch selbstverständlich, zu helfen, wenn man die Möglichkeit dazu hat.»
«Manche traf es schon hart, dass wir festsassen»
«Und dann dämmerte uns, dass wir hier, mitten im Polareis, festsitzen. Das Team, das uns ablösen sollte, würde nicht kommen, konnte nicht kommen, weil wegen der Pandemie kein Schiff fuhr, kein Flugzeug flog. Als ich Ende Januar zu meinem grossen Abenteuer aufgebrochen war, einem Forschungsaufenthalt auf dem Eisbrecher «Polarstern», war das Virus bereits ein Thema, aber irgendwie doch noch weit weg. Anfang März traf ich schliesslich auf der «Polarstern » ein, und auf dem Weg bekamen wir immer beunruhigendere Nachrichten. Aber es war so atemberaubend schön dort, als die Sonne das erste Mal nach der langen Polarnacht wieder aufging, dass ich mich zuerst auf meine Forschungen vor Ort konzentrierte.
Dann brach jedoch auch noch die grosse Eisscholle, auf der unser Helikopter hätte landen sollen, und die Ablösung rückte in weite Ferne. Wir waren 40 bis 50 Forscherinnen und Forscher und etwa 40 Leute von der Crew. Eigentlich war die Stimmung sehr gut. Aber manche traf es dann schon hart, dass wir festsassen, vor allem all jene, die Kinder zu Hause hatten. Für mich war es nicht so schlimm. Ich liebte meine Arbeit dort, bin jeden Tag aufs Eis, um Schneeproben zu nehmen. Ich untersuche die Mikrostruktur und die chemischen Eigenschaften der Schneedecke auf dem Meereis. Um unsere Versorgung machte ich mir keine Sorgen, nur die Zahnpasta wäre uns fast ausgegangen. Mir hat es so gut gefallen, dass ich mich im Juni, als die Ablösung wieder möglich war, dazu entschied, noch zwei Monate anzuhängen.»
«Wir mussten die Tiere euthanasieren»
«Mitte März musste die Versuchstierhaltung der EPFL in einer sehr unsicheren Situation sehr schnell reagieren. Grenzschliessungen waren in aller Munde, und wir erwarteten einerseits eine Futterlieferung aus dem Ausland, andererseits waren verschiedene Mitarbeitende Grenzgänger. Es war klar, dass ein Lockdown die Tierversuche verzögern würde, aber die Protokolle schreiben ein ganz bestimmtes Alter der Mäuse vor. Wir mussten also zusammen mit unseren Kollegen vom Centre de phénogénomique die schwierige Entscheidung fällen, Tiere zu euthanasieren. In meinem Labor mussten wir die Hälfte der Mäuse opfern. Die ersten beiden Wochen waren sehr schwierig. Ich musste entscheiden, welche Projekte prioritär waren und welche gestoppt werden sollten. Dazu gehörte es, die betroffenen Mäuse töten zu lassen.
Ich habe dies als traumatisch erlebt. Meine Forschenden waren am Boden zerstört. Es war eine finanzielle Herausforderung, vor allem aber eine ethische wegen der Mäuse und beruflich katastrophal für mein Team. Mehrere Forschende konnten ihre Projekte nicht abschliessen, obwohl sie talentiert und Nachwuchshoffnungen sind. Mein Ziel ist es nun, die gestoppten Forschungsarbeiten wiederaufzunehmen, einige müssen aber bei null beginnen. Die Aufzucht von Nagern für ein Projekt kann bis zu einem Jahr dauern. Ich hoffe, dass die Institutionen realisieren, dass einige Laboratorien stärker betroffen waren als andere und dass den Forschenden längere Fristen eingeräumt werden. Dafür werde ich kämpfen.»
«Wir haben einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, wie die Situation in Europa 20 Jahren aussehen könnte»
«Ich bin weit weg von zu Hause, schon seit mehr als fünf Jahren. Das hat mir nie zu schaffen gemacht, doch mit der Pandemie hat sich das verändert. Wenn es sein muss, steige ich schnell in den Flieger, und der bringt mich in nützlicher Frist nach Hause – dieses Gefühl ist weg. Jetzt fühle ich mich irgendwie von allem abgeschnitten, was zu Hause in Neuseeland passiert. Allerdings war ich während des Lockdowns unglaublich beschäftigt, das hat mich abgelenkt. Ich bin Datenwissenschaftler bei der Empa und habe ein zusätzliches Forschungsprojekt übernommen. Ab Ende März habe ich untersucht, welche Auswirkungen der gesellschaftliche Stillstand in der Schweiz auf die Luftqualität hatte. Dass der Strassenverkehr so stark reduziert war, blieb zumindest in den städtischen Regionen tatsächlich nicht ohne Wirkung. Die Stickstoffdioxidwerte sind um rund 20 Prozent zurückgegangen.
Überrascht waren wir allerdings, dass die Ozonwerte gleichzeitig um 20 Prozent gestiegen sind. Wir wissen zwar, dass sich die beiden Werte gegenseitig beeinflussen, aber dass das Ozon trotz viel weniger Verkehr recht stark gestiegen ist, hatten wir nicht erwartet. Das Wetter spielte jedoch auch eine Rolle: Wir hatten ungewöhnlich sonnige Wochen im April, was die Ozonwerte vermutlich zusätzlich beeinflusst hat. Wir haben einen kleinen Vorgeschmack davon bekommen, wie die Situation in Europa in 20 Jahren aussehen könnte. Wir werden unsere Arbeit schon bald in einem Journal publizieren, aber ich finde es wichtig, dass wir uns genügend Zeit nehmen. Zu viele Studien sind während der letzten Monate überhastet erschienen.»