Marlyne Sahakian ist Assistenzprofessorin für Soziologie an der Universität Genf. Sie ist spezialisiert auf Konsumverhalten, vorab auf soziologische Aspekte des nachhaltigen Konsums. | Foto: Niels Ackermann

Bei Smart Food werden Gerichte zum Beispiel durch Säfte, Pulver oder Nährstoffpasten ersetzt. Kann damit eine Veränderung hin zu gesunder und nachhaltiger Ernährung gelingen?

Der Smart-Food-Trend hat seinen Ursprung in Kalifornien, wo er durch den Körperkult begünstigt wurde. In der Schweiz greifen die Leute eher aus praktischen Gründen auf verarbeitete Lebensmittel zurück, etwa wenn sie wenig Zeit zum Kochen haben. Sehr stark verarbeitete Produkte stossen aber auf Skepsis, denn sie stehen im Widerspruch zu zwei Haltungen, die hierzulande in Bezug auf gesunde und nachhaltige Ernährung dominieren: Es sollen lokale Lebensmittel konsumiert werden, und Essen soll ein Genuss sein.

Das klingt nach wenig Chance für Smart Food …

Gemäss der Befragung, die ich mit meiner Forschungsgruppe im Rahmen des Projekts Swiss Diets durchgeführt habe, stösst Smart Food in der Schweiz auf wenig Anklang. Und wir haben etwas überrascht festgestellt, dass Schweizer Organisationen, die gesunde und nachhaltige Ernährung propagieren, im dem Bereich nicht aktiv sind. Smart Food wird hauptsächlich von Unternehmen getragen, zum Teil in Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen, die vermutlich vor allem ein technologie- und innovationsfreundliches Publikum überzeugen.

Welche Vorbehalte haben denn die befragten Organisationen?

Es stört sie, dass dafür Tiere getötet werden – insbesondere Rinder –, von ihnen aber nicht alle Teile verwertet, sondern viele fortgeworfen werden. Die Zubereitung von günstigem Fleisch ist jedoch sehr aufwändig und raubte den Hausfrauen früher sehr viel Zeit. Gut, dass das vorbei ist. Die Frage bleibt: Ist es sinnvoll, neue Technologien für Smart Food zu entwickeln, statt bei der Fleischindustrie anzusetzen, die einen Teil der Proteine nicht nutzt?

«Auch manche Zutaten für die neuen fleischlosen Produkte stammen aus ökologisch bedenklichen Betrieben.»

Sind veganer Käse aus Cashewnüssen oder pflanzliche Steaks sinnvolle Optionen?

Vegetarische und vegane Alternativen werden immer beliebter, fleischlastige Ernährung dagegen kritisiert. Die drei wichtigsten Argumente: der ökologische Schaden durch die Treibhausgase, die möglichen gesundheitlichen Auswirkungen und schliesslich die ethischen Bedenken, da Lebewesen getötet werden. Allerdings stammen auch manche Zutaten für die neuen fleischlosen Produkte aus ökologisch bedenklichen Betrieben, wie etwa aus der kalifornischen Mandelindustrie, oder aus Unternehmen mit schlechten Arbeitsbedingungen. Als Reaktion darauf gibt es Initiativen für die lokale Produktion von alternativen Proteinquellen. Zum Beispiel werden in der Region Genf seit Kurzem biologische Linsen angebaut sowie Sojabohnen, aus denen Tofu produziert wird.

Was bedeutet ökologisch bedenklich?

Bei einer Analyse der Auswirkungen von vegetarischem und veganem Konsum auf die Gesundheit und die Umwelt haben wir festgestellt: Dieser verursacht zwar einen kleineren CO2-Fussabdruck als die Ernährung mit Fleisch, die Emissionen sind aber immer noch grösser als das geforderte Maximum der One-Tonne-Lifestyle-Bewegung, wonach eine Person pro Jahr durch ihrem Konsum nicht mehr als eine Tonne CO2 ausstossen soll. Fleischalternativen, welche die Umwelt besonders stark belasten, sind etwa beliebte importierte Produkte wie Quinoa oder Avocados. Doch neben der Umwelt und der Gesundheit gilt es auch Aspekte der Solidarität zu beachten, dass zum Beispiel neben lokalen Produkten auch solche aus Ländern berücksichtigt werden, die auf den Absatz in unseren Märkten angewiesen sind.

Ihre Studien zeigen, dass manche Ernährungsideale widersprüchliche Auswirkungen haben können. Wer lokale Produkte bevorzugt, konsumiert manchmal mehr Fleisch …

Bei den Menschen, die eher mehr Fleisch essen, spielen Emotionen eine Rolle: der Stolz auf die eigene Region und die Vorstellung, dass bei dieser Esskultur das Wissen von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird. Schweizer Fleisch kommt bei diesem Publikum gut an und gilt als vertrauenswürdiger als importiertes.

«Während man im Mittelalter einen Pfau mit seiner ganzen Federpracht auftischte, hat die moderne Gesellschaft immer mehr Distanz zum Körper des Tieres entwickelt.»

Was für eine Rolle spielen Vorlieben und Ekel bei Ernährungstrends?

Ekel scheint vor allem ein Hindernis für die Idee zu sein, Fleisch durch Insekten zu ersetzen. Dabei kommt es aber darauf an, ob die Sechsbeiner ganz gegessen oder zum Beispiel als Mehl zu einem Hamburger verarbeitet werden. Das erinnert an die Schilderungen des Soziologen Norbert Elias vor einem Jahrhundert in seinem Werk «Über den Prozess der Zivilisation». Während man im Mittelalter einen Pfau mit seiner ganzen Federpracht auftischte, hat die moderne Gesellschaft immer mehr Distanz zum Körper des Tieres entwickelt. So können wir Fleisch essen, quasi ohne den Tod mitzubekommen.

Mit welchen Massnahmen könnten Ernährungsgewohnheiten verändert werden?

Bei unseren Projekten stand die Frage im Zentrum, wie Verhaltensänderungen konkret umsetzbar sind. Die Kantine am Arbeitsplatz kann zum Beispiel mit einem fleischlosen Tag dazu beitragen, dass die Mitarbeitenden auf den Geschmack der vegetarischen Ernährung kommen, weil sie sich am Beispiel ihrer Kolleginnen und Kollegen orientieren. Dasselbe gilt für die Mensa in der Schule. Wir haben festgestellt, dass Kinder, die sich vegetarisch zu ernähren beginnen, auch ihre Eltern inspirieren. Ein interessanter Ansatzpunkt für Veränderungen könnte die hohe Mobilität in der Schweiz sein, da sich die Leute deswegen häufig an Transitorten verpflegen. Dort müsste ein gesundes und nachhaltiges Angebot geschaffen werden, sodass dieser Ernährungsstil zum Standard wird und nicht die individuelle Ausnahme bleibt.

Konsum wird vom Alltag diktiert
Das Forschungsprojekt Swiss Diets, an dem Marlyne Sahakian mitwirkte, wurde von 2016 bis 2019 im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion» (NFP 69) durchgeführt. Ziel war es, mögliche Ansätze für die Umstellung auf gesündere und nachhaltigere Ernährung in der Schweiz vorzuschlagen. Ob die Konsumgewohnheiten geändert werden, hängt demnach wesentlich davon ab, wie Alltagsaspekte berücksichtigt werden. Dazu gehören etwa die für Mahlzeiten verfügbare Zeit, die sozialen Beziehungen rund ums Essen sowie Einkaufsgewohnheiten.