IM BILD
Tanzen bis zur Erschöpfung
In Süditalien wird ein uraltes und rätselhaftes Ritual zu neuem Leben erweckt.
Gekleidet in ein langes, weisses Hemd und mit wirren Haaren kriecht eine Frau durch die Strasse und zieht die Aufmerksamkeit von Jung und Alt auf sich. Das Foto entstand 2016 im süditalienischen Apulien während eines religiösen Festivals. Es ist eines von 20 000 Bildern, die die Anthropologinnen Michaela Schäuble und Anja Dreschke von der Universität Bern für ihr Forschungsprojekt zum Tarantismus gemacht haben, einem Brauch, der im 15. und 16. Jahrhundert seine Blütezeit erlebte. Damals geschah es, dass Menschen – sehr oft marginalisierte Frauen – ekstatisch zu mitreissender Musik zu tanzen begannen und damit mehrere Tage lang nicht aufhörten, oft bis zur totalen Erschöpfung. Der Tanzanfall mündete manchmal in eine kollektive Hysterie. Die Leute schrieben diesen Zustand dem Biss einer Tarantel zu, und es hiess, das Gift könnte nur durch Tarantella – den wilden Tanz – aus dem Körper getrieben werden. Die Spinne wurde inzwischen für unschuldig befunden, das Phänomen an sich bleibt rätselhaft: War es eine Form von Psychose? Eine Reaktion auf Armut, harte Arbeit und beengte Lebensverhältnisse? Hing es mit Marginalisierung, Unterdrückung oder Traumata zusammen? Oder war es für Frauen eine Möglichkeit, sich öffentlich mit ihrem Körper frei auszudrücken?
Der lokale Brauch ist jedenfalls bis in die 1980er-Jahre dokumentiert und erlebt aktuell an Festlichkeiten zur Verehrung von Heiligen ein religiöses und folkloristisches Revival. Im apulischen Galatina werden Ende Juni die Heiligen Peter und Paul gefeiert. Dort führen Frauen das Ritual für das Publikum auf. «Die Grenzen zwischen echter Ekstase und theatralischer Inszenierung werden dabei immer wieder neu ausgehandelt», erklärt Michaela Schäuble. Die Forscherin betrachtet diese Volksfeste – mit Musik, Unterhaltung und Karussells für Kinder – als echte Touristenattraktion und damit auch als Chance für die lokale Wirtschaft. Der Tarantismus, einst mit Scham und Krankheit verbunden, ist zum Volksstolz geworden und wird als Teil des kulturellen Erbes der Region Apulien verstanden.