STERBEFORSCHUNG
Wie es dem Umfeld geht, wenn jemand gehen will
Die Beihilfe zur Selbsttötung ist hierzulande ein durchorganisierter Prozess: Angehörige, Ärztinnen und Polizei haben klar definierte Rollen. Was den Beteiligten schwerfällt und was sie schätzen.
Die Zahl der assistierten Suizide nimmt in der Schweiz zu. Laut den aktuellsten Zahlen des Bundesamtes für Statistik waren es im Jahr 2018 1176 oder 1,8 Prozent aller Todesfälle. In der Debatte darum geht es oft hauptsächlich um die Aspekte, welche die Urteilsfähigkeit der sterbewilligen Person oder Selbsttötung an sich betreffen. Weniger Aufmerksamkeit bekommen die Menschen, die am geplanten Ableben beteiligt sind: Angehörige, Pflegepersonal, Sozialarbeiterinnen, Apotheker, Begleitende von Sterbehilfevereinen, Polizistinnen, Gerichtsmediziner, Staatsanwältinnen, Bestatter usw. Neuere Forschungen beleuchten deren Rolle und zeigen, wie sie diese Situation erleben.
Hauptbetroffen ist hier die Familie, die entsprechend hohe Erwartungen hat. «Jeder assistierte Suizid muss legitim und legal sein. Für die Legitimation braucht es die Unterstützung durch das Umfeld», erklärt Murielle Pott, Professorin an der Fachhochschule für Gesundheit des Kantons Waadt. «Den Angehörigen kommt eine ganz besondere Rolle zu», erklärt die Fachärztin für Palliativmedizin und Sterbeforschung. «Sie müssen der betroffenen Person helfen zu leben, damit sie sterben kann.» Denn: Aktive Sterbehilfe ist in der Schweiz verboten. Für einen assistierten Suizid muss die Person urteilsfähig und selber in der Lage sein, die tödliche Substanz einzunehmen.
Für eines ihrer Forschungsprojekte führte Murielle Pott Gespräche mit 29 Angehörigen von Menschen, die Sterbehilfe beanspruchten. Sie ist zum Schluss gekommen, dass der Prozess «immer sehr schmerzhaft ist», dass aber alles versucht wird, damit diese letzte Lebensetappe friedlich verläuft. Angehörige, die gegen die Idee des assistierten Suizids sind, werden von den Sterbewilligen gemieden. «Eine Ehefrau erzählte mir, dass ihr Mann sich die Menschen, mit denen er in den letzten Tagen seines Lebens Zeit verbrachte, sehr bewusst aussuchte. Die ‹Mühsamen› hielt er auf Abstand.» Verhandelbar ist meistens lediglich der Zeitrahmen: Oft versuchen Angehörige, den Tod des geliebten Menschen ein paar Tage oder Wochen hinauszuzögern. Wenn das Umfeld mit der assistierten Selbsttötung gar nicht einverstanden ist, wird manchmal gedroht. «Eine Frau erzählte mir, dass ihr Mann ihr klarmachte: ‹Das Sturmgewehr steht bereit. Entweder du hilfst mir, oder ich erledige das selbst.›»
Nicht nur die Angehörigen können vom Tempo überfordert sein. Meistens finden assistierte Suizide zwar zu Hause statt, manchmal aber auch in Altersheimen oder im Spital. In diesen Fällen ist auch eine Begleitperson der Sterbehilfeorganisation vor Ort anwesend. Dem müssen alle Beteiligten zustimmen, was nicht einfach ist. «In Spitälern versteht das medizinische Personal manchmal nicht, weshalb jemand möglichst bald sterben möchte», erklärt Ralf Jox, Mitinhaber des Lehrstuhls für geriatrische Palliativmedizin am Universitätsspital Lausanne und Professor für Medizinethik an der Universität Lausanne. Der Forscher ist Mitautor einer aktuellen Studie über die Einstellung der Ärzteschaft zur Sterbehilfe.
«Wir sind in zeitlichen Abläufen gefangen, und der Rhythmus des Krankenhauses ist schlecht vereinbar mit der Dringlichkeit eines assistierten Suizids.» Diesen Eindruck äusserte eine Oberärztin in einer Palliativstation eines Regionalspitals, als sie für eine grosse Studie über Sterbehilfe in der Schweiz befragt wurde. Diese wurde zwischen September 2017 und November 2020 in der Westschweiz und der Region Basel durchgeführt und beschreibt erstmals das gesamte System mit allen involvierten Akteuren vor und nach dem Tod. Dazu wurden Gespräche geführt und die Beteiligten bei ihrer Tätigkeit begleitet. «Unter anderem befürchtet das Pflegepersonal, dass solche Fälle, die sehr viel Energie absorbieren, auf Kosten der übrigen Patientinnen und Patienten gehen», resümiert Marc-Antoine Berthod, Anthropologe und Professor an der Fachhochschule für Soziale Arbeit und Gesundheit in Lausanne und Mitautor der Studie.
Schweizer System trotz Vorbehalten breit akzeptiert
Eine Umfrage bei mehreren Tausend Mitarbeitenden der Universitätsspitäler Lausanne und Genf unter Mitwirkung von Ralf Jox zeigt, dass die Ärzteschaft gegenüber der Sterbehilfe im Allgemeinen «etwas zurückhaltender » ist als andere Gesundheitsberufe. «Wenn ein Mensch sterben oder eine Krankheit nicht weiter bekämpfen will, empfinden dies viele Ärzte als Versagen. Zudem tragen sie die Verantwortung für den Prozess (Anm. d. Red.: ärztliches Attest ausstellen, Urteilsfähigkeit bestätigen, tödliche Substanz verschreiben), und sie müssen auch sicherstellen, dass kein Druck von aussen ausgeübt wird, insbesondere von der Familie.»
Trotz dieser Vorbehalte wird das Schweizer Modell der Sterbehilfe als Ganzes von allen Akteurinnen und Akteuren akzeptiert, so das Fazit der Studie von Marc-Antoine Berthod und Mitverfassenden. Diese Erkenntnis gehört vielleicht zu den wichtigsten Ergebnissen der wegweisenden Forschungsarbeit, die auch Thema des im Mai erschienenen Buches «La mort appréciée. L’assistance au suicide en Suisse» ist. «Die am Prozess beteiligten Personen versuchen, ihre persönliche Meinung zurückzustellen, denn sie sind Teil einer Kette und haben Vertrauen ins gesamte System, auch wenn sie nicht alle Schritte kennen », meint Berthod. «In jeder Etappe wird sichergestellt, dass alles korrekt abläuft.» Dafür steht der in der Studie zitierte Polizeibeamte, der die von ihm durchgeführten Schritte nach einem assistierten Suizid als Gewähr dafür sieht, «dass wir innerhalb des vorgegebenen Rahmens bleiben». Er nimmt die assistierte Selbsttötung weniger belastend wahr als die Ärztinnen, weil die Zeit dazu reif sei: Die Menschen, die sterben, hätten genug gelitten.