Fokus: Im virtuellen Raum
Editorial: Die Uni schrumpft zum Bildschirm
Bei einer Katastrophe wäre sie in die Berge geflüchtet. So hat sich Co-Redaktionsleiterin Judith Hochstrasser früher das Erleben von Krisen vorgestellt. Nun muss sie sich stattdessen zu Hause aufhalten – allerdings mit einer überraschenden Hintertür.
Wenn ich mir früher vorgestellt hatte, eine regionale oder globale Katastrophe mitzuerleben, war dies immer mit einem radikalen Ortswechsel verbunden: Ich musste in die Alpen flüchten, um mich vor Feindinnen zu verstecken, oder ich musste mich zuerst in den Luftschutzbunker verkriechen und dann das verseuchte Europa für immer verlassen. Nie aber hätte ich mir Orte ausgemalt, wie sie jetzt Realität geworden sind: Statt dem rauen Wind auf den Pässen bin ich den scheppernden Stimmen der Online-Meetings ausgesetzt, statt die Heimat für immer zu verlassen, bin ich ans ganz kleine Daheim gefesselt: mein Zimmer. Und selbst dieser vertraute Ort hat ein fremdes Gesicht bekommen: Nun ist er auch Büro und Fitnesscenter.
Während wir seit der Pandemie manche Orte neu definieren müssen, verlieren wir zu anderen Orten den Bezug fast ganz. Eine Studentin verlieh dieser verstörenden Entwicklung in einem Beitrag auf SRF Ausdruck: «Die Uni ist kein Ort mehr, sondern nur noch ein Gefühl.» Etwas konkreter zeigt sich diese Erfahrung in einer Umfrage der ETH Zürich, an der über 7800 Bachelor- und Masterstudierende teilnahmen: Der physische Campus fehlt den jungen Erwachsenen bitter, auch wenn sie den Fernunterricht per Bildschirm positiv bewerten. Bis vor Kurzem wurde die Welt schlagartig grösser, wenn man zu studieren begann: Man zog vom Land in die Stadt, auf der Terrasse vor dem Lehrgebäude lag einem das urbane Panorama zu Füssen, man sass in modernen Amphitheatern und sah von oben auf die Dozierenden. Die luftigen Höhen, die man im Geist zu erreichen versuchte, wurden zumindest körperlich schon erfahren.
Durch aufrüttelnde Veränderungen – sei es eine grosse Katastrophe, die alles Gewohnte in Bewegung versetzt, oder einfach der Studienbeginn – wird die Welt zuletzt oft weiter. In der Pandemie dagegen schrumpft sie zusammen. Scheinbar. In unserem Fokus zu virtuellen Räumen wird klar, dass wir dank ihnen auch unendliche Weiten und unbekannte Orte mit unbegrenzten Möglichkeiten entdecken können.