REPORTAGE
In den Wipfeln des dürregeschädigten Waldes
Im Waldlabor bei Hölstein (BL) schweben die Forschenden in luftiger Höhe. Sie untersuchen, wie die Bäume mit dem Klimawandel und der zunehmenden Trockenheit klarkommen. Ein Ausflug in die Kronen von Fichten, Buchen und Eichen.
Kranfahrer André Kühne drückt auf einen Knopf – schon löst sich der runde Eisenkorb vom Boden und schwebt senkrecht nach oben. Vorbei an Baumstämmen, an Kronen von Tannen, Fichten, Buchen, Eichen, immer weiter, über die Kronen hinaus. Hier, in einem Waldstück bei Hölstein im Kanton Baselland, trägt der Kran nicht Baumaterial, sondern Menschen. Im metallenen Korb lässt er Forschende bis zu 46 Meter über Boden über die Baumwipfel schweben. An diesem Tag ist es Ansgar Kahmen, Biologe und Professor für physiologische Pflanzenökologie an der Universität Basel.
Die Anlage gehört zu einem auf 20 Jahre angelegten Forschungsprojekt der Universität Basel: Auf einer eingezäunten Fläche von 1,6 Hektar – etwas mehr als zwei Fussballfelder – untersuchen Kahmen und sein Team, wie die Bäume auf den Klimawandel reagieren. Sie wollen herausfinden, wie unterschiedliche Baumarten mit Trockenperioden umgehen, ob und wie sie sich anpassen können und wie die Wälder in Zukunft aussehen könnten.
Dazu haben die Forschenden in diesem Waldstück ein ganzes Arsenal von Messgeräten installiert: darunter Wetterstationen, Bodensensoren, 70 sogenannte Dendrometer, die den Stammumfang von Bäumen auf den Mikrometer genau messen, und 30 Trichter aus Stoff, die herabgefallenes Laub auffangen, damit die Forschenden daraus das Blattvolumen des gesamten Areals hochrechnen können. Und darum steht hier auch der Baukran, der die Forschenden zu den Baumkronen bringt. Denn um Bäume zu verstehen und zu erkennen, ob sie unter Krankheiten oder Trockenheit leiden, müssen die Forschenden auch die Nadeln und Blätter der höchsten Baumwipfel untersuchen. Mit dem Kran erreichen sie die Kronen von rund 200 Bäumen.
Schon schwebt der Metallkorb über den Wipfeln. Hier oben baden die Bäume im Sonnenlicht. An einer nahen Fichte flattert ein rotweisses Plastikband, etwas weiter entfernt sind zwei weitere Bänder zu sehen. «Damit man sie schnell wiederfindet», sagt Kahmen. Jeden Monat sammelt sein Team vom Korb aus Zweig- und Blattproben und führt in den Kronen Messungen an insgesamt neun Baumarten durch. Beispielsweise ermitteln sie, wie viel CO2 die Bäume absorbieren. Für ihr Langzeitprojekt haben sich die Forschenden ein besonders artenreiches Waldstück ausgesucht, in dem neben den üblichen Verdächtigen wie Fichte, Tanne und Buche auch Waldbäume wie Esche, Hainbuche und Elsbeere nahe beieinander wachsen.
Die gesammelten Proben untersuchen die Forschenden später im Labor. Sie ermitteln etwa Dicke und Fläche der Blätter sowie deren Nährstoffgehalt. Oder sie untersuchen, ob die Wasserleitbahnen im Inneren des Holzes gesund sind oder durch Trockenheit geschädigt wurden. «Aus den Stichproben können wir ermitteln, welche Baumarten unter der Trockenheit leiden und welche nicht», erklärt Kahmen.
Zehn Prozent weniger Bäume seit 2013
Die rund 500 Bäume des Waldlabors stehen unter Druck. Aus der Höhe des Korbs deutet Kahmen hinab auf ein Loch im Ästedach. «Hier ist durch die starken Schneefälle im Januar eine Baumkrone abgebrochen.» Etwas weiter weg ist eine grössere lichte Stelle zu erkennen. Dort sind während des Sturms Burglind im Januar 2018 gleich reihenweise Bäume umgeknickt. Rechts sind zwei Tannen zu sehen, deren Stamm und Nadeln rostrot und völlig ausgetrocknet sind – tote Bäume. Seit dem Start des Projekts 2013 hat das Waldlabor durch Unwetter, Borkenkäferbefall und Trockenheit an die zehn Prozent seines Bestandes verloren. Vor allem der Hitzesommer 2018 hat viele Bäume zerstört, besonders die Fichten. Das extreme Ereignis hat den Forschenden aber auch zu wertvollen Erkenntnissen verholfen. Dank ihren Messgeräten konnten sie live verfolgen, wie die Bäume auf die Wasserknappheit reagierten, und beobachten, welche Mechanismen dazu führen, dass Bäume an der Trockenheit sterben.
Um gesund zu bleiben, benötigen Bäume mehrere hundert Liter Wasser pro Tag. Tagsüber weiten die Blätter ihre Spaltöffnungen, um mittels Fotosynthese aus Licht und Kohlendioxid Kohlenhydrate zu produzieren. Dabei verlieren die Bäume ordentlich Wasser, das über die Blätter verdunstet – für jedes CO2-Molekül, das sie aufnehmen, geben sie bis zu 1000 Wassermoleküle in die Atmosphäre ab. Diesen Verlust gleichen sie in der Nacht wieder aus, indem sie über die Wurzeln neues Wasser einsaugen und über den Stamm in die Äste hochleiten. Wegen des Wasserzyklus schrumpft der Stamm tagsüber und dehnt sich nachts wieder aus, ein Prozess, der sich über die Dendrometer beobachten lässt. Die Daten zeigen, wenn sich ein Stamm nicht mehr vollständig ausdehnt, weil nicht genug Wasser da ist. «So können wir den Wassermangel einzelner Bäume genau quantifizieren.»
Inzwischen schwebt der Korb wieder Richtung Waldboden. Unten angekommen stapft Kahmen zu einer Stelle, die mit gespannten Schnüren markiert ist. Hier haben er und sein Team den Boden bis auf einen Meter Tiefe mit Feuchtigkeits- und Temperatursensoren versehen. Zudem saugen Leitungen Wasserproben aus der Erde an – dasselbe Wasser, das die umliegenden Bäume durch ihre Wurzeln aufnehmen. Dank dieser Anlagen können die Forschenden den Weg von Nährstoffen verfolgen und ermitteln, aus welcher Tiefe ein Baum Wasser aufgenommen hat.
Mithilfe dieser Messmethode und der Dendrometerdaten haben die Forschenden herausgefunden, warum gerade Fichten so anfällig auf Trockenheit sind: Die Nadelbäume können mit ihren Wurzeln nur aus den oberen Bodenschichten Wasser aufnehmen. Dagegen schaffen es dürreresistentere Baumarten wie Esche oder Eiche, sich auch aus tieferen Schichten mit Wasser zu versorgen.
Inzwischen wissen die Biologen auch, dass viele der Buchen nach wie vor unter jenem Trockensommer vor bald drei Jahren leiden. Sie trugen damals Schäden in den Wasserleitbahnen davon, die noch heute ihre Wasserversorgung einschränken. «Das hat zur Folge, dass die Bäume heute weniger Blattwerk ausbilden als zuvor», sagt Kahmen. Gerade für Buche und Fichte, die heute viele Wälder in Europa dominieren, dürfte die Trockenheit in Zukunft zum Problem werden.
Mehr Trockenheit, weniger Fotosynthese
Von oben surrt plötzlich eine Drohne heran. David Basler, Postdoc in Kahmens Gruppe, pflückt sie aus der Luft und schaut sich danach auf dem Tablet deren neuste Bilder an. Regelmässig lässt er die mit einer Kamera bestückte Drohne über das Waldlabor fliegen, um die saisonabhängige Belaubung der Bäume zu erheben. Mittels einer Software setzt Basler die Aufnahmen zu einem dreidimensionalen Bild zusammen, das zeigt, wann genau in welchen Teilen des Waldes im Frühling Laub spriesst und wann es sich im Herbst verfärbt und herabfällt. Die Langzeit-Daten sollen auch dokumentieren, wie sich diese Prozesse durch die Klimaerwärmung verändern.
Neben der Gruppe Kahmen nutzen viele weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Waldlabor und erforschen darin etwa die Insektenvielfalt oder die Gesundheit des Bodens. Bald will ein Team der ETH Zürich hier eine neue Drohne testen, die selbstständig um die Äste der Bäume herum navigieren soll.
Kahmen und sein Team wollen derweil noch einen Schritt weiter gehen und im Waldlabor direkt simulieren, wie sich die Klimaerwärmung auswirken wird. Dazu werden sie im Herbst 2021 sechs 20 mal 40 Meter grosse Dächer unter den Kronen montieren, welche die Hälfte des Regenwassers vom Boden abhalten werden – eine künstlich erzeugte Trockenheit. «So wollen wir herausfinden, welche Anpassungsmechanismen unterschiedliche Baumarten aktivieren können», sagt Kahmen. Bekannt ist bereits, dass viele Arten eine kurzfristige Wasserknappheit auffangen, indem sie die Spaltöffnungen in den Blättern schliessen, sodass daraus kein Wasser mehr verdunstet. Denkbar ist auch, dass sie in den Folgejahren weniger Blattwerk ausbilden, damit die Oberfläche, über die Wasser verdunsten kann, kleiner wird – so wie das manche Buchen seit dem Hitzesommer 2018 machen.
Doch wie unterschiedlich ausgeprägt reagieren die verschiedenen Baumarten genau? Und was bedeuten diese Veränderungen künftig für die Wälder? Bäume mit weniger Blattwerk können schliesslich weniger Fotosynthese betreiben. Wie wirkt sich das auf ihr Wachstum aus? All diese Fragen wollen die Forschenden mit dem Dürreexperiment beantworten. Daraus folgt auch eine ganz praktische Frage: Auf welche Baumarten sollen Försterinnen und Förster in Zukunft setzen? «Wenn wir die physiologischen Mechanismen kennen, die Bäume dürreresistent machen, können wir anfangen, Arten zu fördern, die mit den zukünftigen Klimabedingungen klarkommen», sagt Kahmen. Er schaut sich nochmals im Wald um, bevor er sich für heute von ihm verabschiedet. «Ein paar verregnete Sommer würden ihm schon guttun.»