Das Aufwachen ist ähnlich wie immer: ein schwieriger Moment, in dem der Körper nur langsam die Kontrolle gewinnt. Ich sitze auf der Bettkante, das Leintuch gleitet über meine Haut, ich spüre ein sanftes Schaudern. Aus einer Platte an der Decke fällt gedämpftes Licht, das allmählich an Intensität zunimmt. Keine Fenster. Kein reflektierendes Metall. Die Prüfung mit dem Spiegel erwartet mich hinter der einzigen, verschlossenen Tür.

Ich nehme Kontakt mit dieser Realität auf, versuche zu begreifen. Ich betrachte meine Hände, die wie immer geschmeidig und blass sind. Ein Fleck auf meinem Handgelenk, vertraute Falten tanzen über meine Knöchel. Keine Narben natürlich. Spontan berühre ich mit einem Finger die Oberseite meines Schädels, wo sich die Öffnung der neuronalen Buchse befindet: die Schnittstelle, die mein Gehirn mit der echten Welt verbindet. Ich spüre sie, warm, aufregend, wunderbar eindringend. Sie schmiegt sich nahtlos an den Knochen. Wenn ich darüberstreiche, löst das keine Empfindung aus.

Heute werde ich fünfzehn. In wenigen Minuten beginnt ein Mündigkeitsritual, und ich werde mein echtes Gesicht sehen, hier, in der Welt meines Körpers, weit entfernt von meinen bisherigen Orientierungspunkten. Ein Schwindelgefühl überkommt mich, das Bedürfnis, mich zu sammeln.

Warum sollte ich diese ursprüngliche Realität wählen, in der es nur darum geht, die Organe am Leben zu erhalten? Meine Welt ist echter, weiter, interessanter als diese bittere Wüste der Sinne.

Mit Daumen und Zeigefinger kneife ich mich in den Unterarm, immer fester. Kein Filter mildert den Schmerz, ich könnte weitermachen bis zu einer Verletzung … Als ich den Druck lockere, hinterlassen meine Nägel violette Abdrücke. Das ist mein Körper. Der Tempel, der mein Bewusstsein beherbergt. Ich habe ihn mir immer als Schutzhülle vorgestellt, als einen wohligen Kokon aus Fett, Muskeln und Knorpel. Doch mein Kopf sitzt fest auf dem Ende einer Wirbelsäule, und ich nutze ihn genauso wie alle anderen Avatare meiner wahren Welt.

Meine wahre Welt, in der es praktisch keinen Schmerz, keinen Hunger, keine Krankheiten, kein Risiko und keine Unfälle, keinen Gestank, keine Tränen, keinen schlechten Geschmack und keine körperlichen Notwendigkeiten wie Essen, Trinken, Stuhlgang, Schwitzen, Waschen, Bewegen, Arbeiten gibt. Der Tod ist ein diskretes Erlöschen mit schmerzhaftem Abdruck.

Meine wahre Welt, in der ich fliegen, meine Gestalt wandeln, die Emotionen anderer direkt in mir spüren und meine Umgebung verändern kann … Nach der Bewährungsprobe werde ich dorthin zurückkehren, volljährig, dann kann ich dort alles, was ich tun möchte, frei wählen. Ich wäre nicht mehr gezwungen, meinen Körper beherrschen zu lernen, wie das alle Kinder in meiner Welt bis zur Volljährigkeit tun müssen – nur für die hypothetische Entscheidungsfreiheit, falls sie eines  Tages in die körperliche Welt zurückkehren und dort alt werden möchten. Warum sollte ich diese ursprüngliche Realität wählen, in der es nur darum geht, die Organe am Leben zu erhalten? Meine Welt ist echter, weiter, interessanter als diese bittere Wüste der Sinne, in die ich meinen Körper schleppe wie einen alten Mars-Rover,  der Stück für Stück auseinanderfällt, bevor er endgültig stehen bleibt und in kalter Unendlichkeit vor sich hin rostet.

Endlich bin ich erwachsen, und meine Träume liegen vor mir! Ich werde jeden Tag fliegen und muss nicht mehr länger lernen, wie man geht, wie man Stuhlgang hat, wie man kaut, wie ich dieses Gesicht verändern  kann, das ich in wenigen Augenblicken mit meinen Augen aus Fleisch und Blut betrachten werde, hoffentlich zum letzten Mal.

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Mein Hintern und mein Kreuz schmerzen vom zu langen Sitzen, währenddem meine Gedanken rasten. Der Körper fordert meine Aufmerksamkeit ein, immer noch.  Jede Information, die an mein Gehirn gesendet wird, ist jetzt authentisch, ohne Vermittlung, ohne Schnittstelle. Der Schmerz fängt in den ersten Minuten an.

Ich bin – wie der Rest der Menschheit – in einem Tank aufgewachsen. Zum ersten Mal sind die Flüssigkeiten, die meinen Körper umspülten, abgepumpt worden, sind die Ernährungssonden, das neuronale Geflecht, das Netzwerk aus Nanotechnologie, die mein Fleisch seit der Geburt umhüllt haben, entfernt worden.

Ich wurde ein  zweites Mal geboren.

Ich wünschte, meine Patinnen und Paten wären bei mir, doch im Moment besteht nur die Verbindung zu mir selbst. Die ersten Minuten der ursprünglichen Realität erlebt man allein.

Ich trete mit der Ferse auf und will losfliegen, vielleicht in einer Pixelexplosion die Decke zerschmettern und als flammender Komet in den Himmel steigen.

Aus einer plötzlichen Eingebung heraus stütze ich mich auf den Rand der Matratze und stehe auf. Das gelingt so mühelos wie Aufwachen, Berühren oder Atmen. Es passiert nichts Besonderes, und der ziehende Schmerz im Rücken lässt nach. Ich habe meinen physischen Körper noch nie so exponiert wie heute. Plötzlich überfällt mich eine dumpfe, unbewusste Angst: vor dem Gehen, vor dem Umfallen, davor, dass mein Kopf auf den Boden aufschlägt und ich das kostbare Stück beschädige.

Die ursprüngliche Welt ist voller Risiken. Jede Sekunde steht das Leben auf dem Spiel.

Ich hole Luft und mache drei Schritte. Das ist einfach. Meine Gliedmassen gehorchen mir wie diejenigen in meiner wahren Welt. Die Empfindungen sind gleich, die Mechanik folgt den Impulsen. Die Tür öffnet sich und gibt den Blick auf einen anderen Raum frei, der grösser und ähnlich karg ist. In der Mitte steht eine Art Ständer, der mit einem schwarzen Tuch bedeckt ist, dahinter ein Vorhang.

Ich habe den naiven Wunsch, dass alles nur eine Simulation ist. Ich trete mit der Ferse auf und will losfliegen, vielleicht in einer Pixelexplosion die Decke zerschmettern und als flammender Komet in den Himmel steigen, doch nichts geschieht. Mein Körper bleibt starr wie ein vom Wind erodierter Fels in der Sandwüste. Ich habe keinen Zugang zu einem Interface, keine Musik begleitet mich wie sonst auf Reisen. Es gibt nur mich und diese Realität, in einer erstickenden, sensorischen Stille, einer rohen, unnachgiebigen Zusammenkunft der Sinne.

Ich gehe zum Ständer und hebe mit einer Hand das Samttuch an, unter dem ein Spiegel zum Vorschein kommt.

Ich sehe ein Gesicht mit einer Stirn, die von dichten schwarzen Locken umhüllt wird. Einen Mund mit wohlgeformten Lippen, die zum Küssen und zum Kosten süsser Dessertträume bestimmt scheinen. Zwei Nasenlöcher, die sich beim Einatmen aufblähen. Zwei glitzernde Augen mit rabenschwarzen Edelsteinen in holzfarbener Einfassung. Meine Haut wirkt blass, doch meine Augen leuchten intensiv.

Ich stelle mir vor, wie mein Körper jahrelang geschlafen hat, bebrütet von Maschinen, während ich an einem Ort lebte, der unmöglich zu lokalisieren ist, in einem Raum ohne Materie, der doch so echt war, dass ich ihn mein Zuhause nenne.

«Moïra …»

Mein Mund hat sein erstes Wort artikuliert, und es beruhigt mich, meinen Namen zu hören. Der  Klang meiner Stimme ist derselbe, das Gehör in meinem Kopf funktioniert also einwandfrei.

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Ich reisse den Blick von meinem Gesicht los und greife nach dem Apfel, der neben den Spiegel gelegt wurde – ich frage mich, von wem. Wer will schon in dieser Welt hier leben? Wer erledigt solche Arbeiten? Menschen, für die eine einfache Tätigkeit in engen körperlichen Grenzen sinnvoll genug ist? Oder aufmerksame Maschinen, die dank einer algorithmischen Inspiration einen Apfel fallen lassen?

Ich untersuche die Frucht genauer. Die feste Rundung fühlt sich in meiner Hand rau an. Kleine schwarze Punkte besprenkeln die blassgrünen Seiten, und dort, wo der Apfel auflag, hat er einen braunen Fleck. So etwas habe ich noch nie an einem Apfel gesehen.

Der Holzständer, auf dem der Spiegel steht, ist uralt. Ich knie hin und sehe, dass sein Bein sich wie eine Girlande aus Pflanzen hochwindet, von den bekrallten Füssen bis zum Blütenstand. Eine Seite hat Kratzer, wohl beim ungeschickten Versetzen entstanden, vielleicht durch das Streifen einer Wand. Einer der Füsse ist mit kleinen Dellen übersät, als ob ein Kind mit einem Schraubenzieher darauf herumgehämmert hätte. Die Geschichte des Ständers zeigt sich in vielfältigen Spuren, die zuerst verborgen bleiben.

Plötzlich verstehe ich: Falten, Narben, Gebrechen, Schläge, Statik, das Spiel der Gelenke, der Gebrauch von Gliedmassen, Muskeln und Nerven, geprägt durch Zeit,  Erfahrungen, Gewohnheiten und Unfälle, hinterlassen unauslöschliche Zeichen. In meiner Welt kann ich meine Avatare auf Wunsch ändern. Hier gilt das Gegenteil: Erfahrung wird in Echtzeit festgeschrieben, tätowiert, in den Körper eingraviert.

Die Erkenntnis eines endlichen Universums, das vom Lauf der Zeit gezeichnet ist und Geschichten voller Patina schreibt, hat in mir ein Verlangen entfacht.

Wenn ich in meiner Welt einen Berg besteigen will, füge ich Gliedmassen hinzu oder verwandle mich in einen Steinbock, und alles wird einfach, das Erlebnis wird zum Genuss, dann zum Spektakel. Hier kann mich das Bergsteigen das Leben kosten,  selbst mit Vorbereitung, richtiger Technik und Ausrüstung.

Einst gehörten Träume zur Kindheit und Zwänge zum Erwachsensein. Jetzt ist alles umgekehrt: Kinder müssen zunächst den Umgang mit dem ursprünglichen Körper erlernen, das Leben als Erwachsene ist dann ein langer, kraftvoller, luzider Traum.

Ich wurde mit dem Wunsch geboren, mich vom Körperlichen zu befreien und die stete Illusion meiner Welt zu verinnerlichen, die grenzen- und gefahrlosen Entdeckungen, endlos multipliziert in hyperbolischen Kurven, in narzisstischen Blasen von mir selbst und von anderen, in teleskopischen Perspektiven, die sich annähern und wieder trennen.

Und hier, inmitten der ultimativen Einschränkungen, erkenne ich das gewaltige Ausmass und die unglaubliche Finesse, die zu einer körperlichen Erkundung gehören: das ewige Risiko. Die Langsamkeit der Sinne und der Tage. Das Bedürfnis, seine Energie zu dosieren, Aktivität und Erholung nach dem Rhythmus eines  Planeten auszurichten, der unablässig seine Kreise zieht und die Zeit in Hell und Dunkel gliedert.

Eine unbändige Freude überkommt mich: Ich will mich auf dieses Leben einlassen, die Zerbrechlichkeit des Augenblicks umarmen. Die Erkenntnis eines endlichen Universums, das vom Lauf der Zeit gezeichnet ist und Geschichten voller Patina schreibt, hat in mir ein Verlangen entfacht.

Ich möchte den Himmel sehen.

Ich ziehe den Vorhang hinter dem Ständer zur Seite. Er hat ein Fenster verdeckt. Die Sonne blendet mich. Während ich darauf warte, dass sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnen, sehe ich, wo sich Fingerabdrücke auf dem Glas abzeichnen, im pastellfarbenen Licht dessen, was ich für die Morgendämmerung halte.

Hier werde ich nie allein sein. Die Träume können warten. Sie werden nicht verschwinden. Noch nicht.

Mit einem erwartungsvollen Lächeln beisse ich beherzt in den Apfel, bereit, eine neue Welt zu entdecken.

Vincent Gessler ist Science-Fiction-Autor und lebt in Genf. Sein erster Roman Cygnis erhielt 2010 zwei französische Literaturpreise.