Kolumne
Marcel Tanner: Nicht immer bleiben, was wir schon sind!
Die Sportwissenschaften können unsere Gesellschaft verändern, findet Marcel Tanner, Präsident der Akademien der Wissenschaften Schweiz.
Es ist sehr schön, in dieser Horizonte-Ausgabe so umfassend, faszinierend und stimulierend etwas über Sport und Sportwissenschaft zu erfahren – und damit etwas über einen lange Zeit vernachlässigten Teil der Wissenschaften. Wir sprechen viel über Turnen, Breiten-, Leistungs-, Extrem- und Funsport und hinterfragen kaum, was die Rolle der Wissenschaft in diesem «Sportdschungel» sein kann oder muss. Typisch aber scheint mir, dass wir uns dieser Frage gerade in Zeiten der Pandemie bewusster werden; vielleicht erkennen wir sogar, wie die Sportwissenschaft stets einen wichtigen Beitrag zu Public Health geleistet hat und leistet.
Die eigentliche Sportwissenschaft geht dokumentierbar bis auf die Renaissance zurück und hat uns Wesentliches zum Verständnis des Wohlseins und Wohlbefindens unserer Gesellschaften gelehrt. Was Gesundsein und Gesundbleiben bedeutet, erfahren und verstehen wir oft als «gegeben», ohne die wissenschaftlichen Grundlagen zu ergründen. Ausserdem stand die Sportwissenschaft zu oft und leider auch ungerechtfertigt im Scheinwerferlicht, wenn es um Dopingskandale ging.
Sportwissenschaft ist aber weit mehr als Skandalbewältigung. Die stets breit angelegten interdisziplinären Arbeiten zum Verständnis von Leistungsspektren, physischen und psychischen Interaktionen bei spezifischen sportlichen Aktivitäten sowie von Kurz- und Langzeitfolgen bei einem Individuum und auch in der Gesellschaft blieben zu sehr vergessen. Dabei sind genau diese Arbeiten, ob Grundlagen- oder angewandte Forschung, besonders wichtig, wenn eine Gesellschaft nachhaltig handeln und dazu beitragen will, dass wir die nachhaltigen Entwicklungsziele erreichen.
Sicher haben Sie beim Lesen dieser Ausgabe etwas über die Tiefe und die interdisziplinäre Denk- und Arbeitsweise der Sportwissenschaft erfahren – von den Geisteswissenschaften und biomedizinischen Wissenschaften bis hin zu den technischen Wissenschaften und Wirtschaftswissenschaften. Damit führt die Sportwissenschaft uns vor Augen, dass wenn wir immer nur tun, was wir schon kennen, wir immer das bleiben, was wir schon sind.
Übertragen wir ganz konkret und kontinuierlich diese Erkenntnis aus unserer Lieblingssportart in die Wissenschaft und/oder das tägliche Leben, so werden wir zu verantwortungsvollen Gliedern unserer Gesellschaft und können mit Energie und Freude – dopingfrei – unsere täglichen Herausforderungen sportlich angehen. Ich wünsche Ihnen dazu viel Kraft!