GESCHLECHTERGERECHTE SPRACHE
Wie die männliche Form das kindliche Denken prägt
Die Daten sagen, dass die vermännlichte Sprache unsere Gedanken beeinflusst. Das zumindest ist der Schluss im neuen Buch von Psycholinguist Pascal Gygax.
Denkt das Gehirn in männlichen Formen? Diese Frage stellt Pascal Gygax, Psycholinguist an der Universität Freiburg, im Titel seines Buches, das er kürzlich zusammen mit der Linguistin Sandrine Zufferey und der Sozialpsychologin Ute Gabriel veröffentlicht hat. Um keine unnötige Spannung zu erzeugen: Die Antwort lautet: Ja. Das Buch zeigt dies anhand zahlreicher Studien aus dem In- und Ausland, die den Einfluss geschlechterspezifischer Sprache auf sexistische Vorstellungen analysiert haben. «Nach 50 Jahren Forschung und rund 200 Studien zu diesem Thema war es Zeit für ein Buch, das sich ans breite Publikum richtet und die sehr emotional gewordene Debatte aufarbeitet », erklärt Gygax.
Die Reaktionen auf das Buch zeugen von dieser Emotionalität. «In den siebzehn Jahren meiner Forschung zu diesem Thema habe ich noch nie so viele Anfeindungen erlebt», erzählt der Bieler. «Es sind meistens weisse Männer in den Fünfzigern oder Sechzigern in höheren Positionen, die mir schreiben und mir ihre Sicht erklären, häufig ohne diese mit Fakten zu belegen. Das ist schade, denn das Ziel war es ja gerade, das Thema wissenschaftlich anzugehen.»
Das Buch konzentriert sich insbesondere auf die Interpretation der sogenannten generischen Form. Im Deutschen, im Französischen, im Englischen und auch in anderen Sprachen wird das männliche Geschlecht im Singular oder Plural neben seiner spezifisch männlichen Bedeutung auch als Neutrum verwendet. Ein Beispiel aus dem Buch: «When a kid goes to school, he often feels excited on the first day.» Hier hat das «he» eine generische Funktion, das heisst, es soll alle Geschlechter einschliessen. In Deutsch kann man es so erklären: Bei «Es gibt viele exzellente Forscher in der Schweiz» soll «Forscher» auch alle Geschlechter einschliessen. Das Problem: Die generische Bedeutung wird nicht so wahrgenommen.
Generikum ist kein Neutrum
1984 liess Janet Hyde, eine amerikanische Forscherin, Lernende unterschiedlichen Alters eine Geschichte schreiben, die mit dem oben zitierten englischen Satz beginnen sollte. 21 Prozent der Hochschulstudierenden wählten eine Frau als Hauptfigur, von den 5- bis 12-Jährigen dagegen nur 7 Prozent. Die vorgegebene männliche Formulierung hatte zur Folge, dass sich die grosse Mehrheit auch eine männliche Figur vorstellte.
2008 zeigte Pascal Gygax mit seinem Team in einer Studie, dass es in Französisch und in Deutsch schwierig ist, sich Sätze auszudenken, in denen Frauen vorkommen, wenn zuvor von einem Beruf oder einer Tätigkeit im männlichen Plural die Rede war (zum Beispiel: «Die Musiker spielten die ganze Nacht, bis gegen Morgen die Geigerin einschlief. »). Im Klartext: Es ist naiv, zu glauben, dass sich die generische Form vollständig vom Männlichen lösen kann.
Das Buch präsentiert auch zahllose Beispiele, die zeigen, wie die Sprache um das Maskulinum herum aufgebaut wurde. Dass wir «Adam und Eva» und «Mann und Frau» sagen, ist kein Zufall. Laut einer Metaanalyse von Peter Hegarty und seinem Team aus dem Jahr 2016 hängt die Reihenfolge der Erwähnung häufig mit der Wichtigkeit zusammen, die den in den einzelnen Begriffen beschriebenen Menschen beigemessen wird. Diese Vermännlichung ist zumindest teilweise beabsichtigt, so das Buch. Man erfährt etwa, dass in den USA und England das Neutrum-Pluralpronomen «they» bis ins 19. Jahrhundert als Singular verwendet wurde, wenn das Geschlecht einer Person unbekannt war. Doch Grammatiker setzten durch, dass das Pronomen «he» («er») als Generikum verwendet wurde, da es ihnen «würdiger» schien. Heute erlebt das «they» ein Revival.
Diese aktiv androzentrische Sprache zwinge uns, «die Welt aus einem männlichen Blickwinkel zu betrachten». Im Buch wird argumentiert, dass dies zur Ungleichheit zwischen den Geschlechtern beitrage. Und hier kommt nun die inklusive Sprache ins Spiel, als Instrument zur «De-Maskulinisierung» der mündlichen und schriftlichen Sprache. Im Französischen oder Deutschen können etwa Doppelnennungen («Autorinnen und Autoren») oder entsprechende Kurzformen («Autor/-in») nützlich sein, um Stereotypen im Zusammenhang mit Berufen abzubauen. Sabine Sczesny von der Universität Bern bestätigt dies: «Mädchen interessieren sich mehr für typisch männliche Berufe, wenn ihnen diese mit der Doppelnennung anstelle der maskulinen Form präsentiert werden.» Die Professorin für Sozialpsychologie hat in ihren Arbeiten zudem aufgezeigt, dass es einen Zusammenhang zwischen sexistischen Einstellungen und der Ablehnung inklusiver Sprache gibt.
Die Katze der Nachbarn
Auch Anne Dister, Professorin für Linguistik an der Universität Saint- Louis in Brüssel, findet es sinnvoll, Berufe mit Doppelnennung aufzuführen, wenn sie stereotyp männlich sind, und in Stellenanzeigen männliche und weibliche Berufsbezeichnungen zu nennen. Sie hält es jedoch für unnötig, systematisch alles feminisieren zu wollen. Sie plädiert für «Sprachökonomie»: «Manchmal ist es ganz einfach nicht relevant. Wenn ich sage, dass meine Nachbarn eine Katze adoptiert haben, wozu soll ich dann das Geschlecht der Nachbarn angeben?»
Dister ist ausserdem der Meinung, dass das Generikum im alltäglichen Sprachgebrauch sehr wohl als solches verstanden wird: «Wer denkt denn ernsthaft, dass Frauen eine Überführung für Fussgänger nicht benutzen dürfen?» Sie bestreitet auch die Behauptung, die Sprache sei von Grammatikern vollständig vermännlicht worden: «Das trifft zwar auf Substantive, insbesondere auf Personenbezeichnungen, zu. Aber nicht auf die Grammatik.» Ausserdem werde immer mit denselben Beispielen argumentiert. «Was Frauen unsichtbar macht, hat weniger mit männlichen Formen zu tun als mit unserem Weltwissen.» Der geschlechtsspezifische Begriff «Minister» aktiviere heute nicht mehr dieselben Vorstellungen wie vor 50 Jahren. Die Linguistin weiss, wovon sie spricht. Zusammen mit Marie-Louise Moreau hat sie die Entwicklung der Begriffe analysiert, mit denen sich die Kandidatinnen und Kandidaten bei den Europawahlen in Frankreich und Belgien seit 1989 bezeichnen (typischerweise «sénatrice» oder «sénateur»). Ergebnis: Die Feminisierung ist massiv.
Schenken wir der Sprache zu viel Bedeutung? Ist sie nicht einfach ein Spiegelbild der Gesellschaft, das sich mit ihr weiterentwickelt? «Diese Frage ist wenig ergiebig», antwortet Pascal Gygax. «Die Geschichte lehrt uns, dass die patriarchalische Gesellschaft einen Einfluss auf die Maskulinisierung der Sprache hatte, und die Daten sagen, dass die Vermännlichung der Sprache einen Einfluss darauf hat, wie wir die Welt wahrnehmen. Die entscheidende Frage lautet daher: Wollen wir das ändern? Wenn ja, dann ist inklusive Sprache ein Werkzeug dafür.»
Die persönlichen Angriffe nach der Veröffentlichung des Buches konnten dem Engagement des Forschers, der in den Medien sehr präsent ist, übrigens nichts anhaben: «Ich hatte schon immer Lust, aus der akademischen Blase herauszukommen.»