Fokus: Die bessere Stadt
Weg mit den Autos, her mit den Grünflächen!
In Zürich-West nimmt die intelligente Stadt der Zukunft Gestalt an. Forschende nutzen dafür Kenntnisse aus der Gartenstadt Singapur. Von Gemüse auf Dächern, Bäumen gegen die Hitzehölle und der Verbannung der Personenwagen.
In Zürich-West ist es kalt und grau an diesem Nachmittag. Zwischen Hauptbahnhof und Limmat erinnern Namen wie Schiffbau und Turbinenplatz sowie alte Backsteinbauten und umgenutzte Fabrikhallen an das industrielle Erbe der Stadt. Seit den 1990er-Jahren wird Zürich-West umgekrempelt, verdichtet und für die Herausforderungen der Zukunft fit gemacht. Mit dem 126 Meter hohen Prime Tower wurde 2011 ein für Schweizer Verhältnisse neuer Massstab eingeführt; ein Sinnbild für wirtschaftliches und städtebauliches Wachstum. Laut Szenarien des Präsidialdepartements wird die Bevölkerung Zürichs bis ins Jahr 2040 von aktuell 435 000 auf 514 000 Personen anwachsen.
Von Shenzen über Hongkong und Singapur nach Zürich
Vor einem modernen Hotel zwischen Cafés und Fitnesscentern wartet Michelle Yingying Jiang. Die Städteforscherin ist in China aufgewachsen, hat in Shenzhen und in Hongkong Architektur studiert, mehrere Jahre in Singapur gearbeitet und ist aktuell Koordinatorin des Forschungsprojekts «Dense and Green Cities» am Zürcher Hub des Future Cities Lab (FCL) der ETH Zürich. Das 2010 gegründete Lab besteht aus Teams in Zürich und Singapur. Der Stadtstaat auf einer Insel am Zipfel Malaysias gilt vielen Forschenden als Referenz für eine stark verdichtete, grüne und intelligente Stadt.
Seit 2012 analysiert deshalb Jiangs Forschungsteam die Entwicklung Singapurs, wertet Satellitenbilder aus, befragt Bewohner und Bewohnerinnen, wie sie die städtische Infrastruktur nutzen und ob sie zufrieden mit ihrer Wohnsituation sind. Die Erkenntnisse sollen auch der hiesigen Stadtentwicklung zugutekommen, wofür die Forschenden Anfang 2021 eine Kooperation mit der Stadt Zürich eingingen. Je zehn Städteforschende in Zürich und in Singapur werden während fünf Jahren die architektonischen, städteplanerischen, ökologischen, sozialen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen von «dichten und grünen Städten» analysieren.
Zürich-West gehört zu den Stadtgebieten, in denen Jiangs Team Feldforschung betreibt. Auf einem Rundgang erzählt sie von den Erkenntnissen aus Singapur und was erfolgreiche Städte der Zukunft ausmacht. Wir spazieren durch ein Wohngebiet Richtung Limmat. Plötzlich bleibt die Architektin vor einem kleinen Garten mit Jungbäumen, Minzebüschen und Salbei stehen. An der Fassade der angrenzenden Bäckerei mit Café wachsen Kletterpflanzen. Inmitten von mehrstöckigen Bürogebäuden wirkt der kleine Fleck Garten selbst im Winter noch wie eine grüne Oase. Jiang sagt: «Dieser Raum trägt zum Wohlbefinden der Anwohnenden bei. Ich bin sicher, dass hier im Sommer viele Menschen draussen sitzen.»
Solche grünen Flecken werden in smarten Städten der Zukunft wichtiger, sind die Forschenden des FCL überzeugt. Sie fördern die Gesundheit, schaffen Habitate für Kleintiere, Vögel und Insekten und erhöhen dadurch die Biodiversität. Das ist auch hinsichtlich der zunehmenden städtischen Nahrungsmittelproduktion relevant – Honig von Hochhausdächern, Salate und Tomaten aus Urban- Gardening-Projekten. Der Zürcher Verein Edible Roofs versucht derzeit, Menschen zu motivieren, ihre brachliegenden Terrassen und Flachdächer für den Gemüseanbau zu nutzen. Im frühjahr 2021 wurde im Lochergut-Areal im ehemaligen Arbeiterviertel Aussersihl eine erste Terrasse bepflanzt: Es sind 13 Hochbeete mit 4600 Litern Erde entstanden (Bild 1).
Grünflächen sind aber auch Treffpunkte, sie fördern den sozialen Austausch in Quartieren. Neben offiziellen Parks machen kleine Flecken einen Grossteil der globalen städtischen Grünflächen aus. In einer Studie zu neun chinesischen Megacities – also städtischen Räumen mit einer Bevölkerung von über zehn Millionen – kamen Forschende kürzlich zum Schluss, dass sich der grösste Teil der Grünflächen aus fragmentierten kleinen Flecken mit weniger als 0,1 Hektaren zusammensetzt. Lange haben Städteplaner solche Kleinflächen übersehen, die wichtige Ökosystemdienstleistungen erbringen.
Doch seit einigen Jahren findet in Architektur und Stadtplanung ein sogenannter Ecological Turn statt. In New York und Paris werden alte U-Bahn-Linien zu begrünten Flaniermeilen umgestaltet (Bild 2). In Seoul wurde 2017 eine ausgediente Autobahnüberführung mit 24 000 Pflanzen und 50 Baumarten bestückt und in einen öffentlichen Park verwandelt (Bild am Anfang des Artikels). In Mailand gibt es seit 2014 einen vertikalen Wald, den Bosco Verticale (Bild 3). Die Balkone und Terrassen der 80 und 104 Meter hohen Zwillingstürme wurden mit 900 extra dafür gezüchteten Bäumen und 2000 weiteren Pflanzen bestückt. Sie absorbieren CO2, reinigen die Luft und sollen als Trittsteinbiotop fungieren, über das Tiere einfacher zwischen Parks, Alleen und Brachflächen wandern können. Der vertikale Wald hat das ehemalige Arbeiterviertel Porta Nuova im Rahmen einer Gesamterneuerung deutlich aufgewertet und verdichtet. Es gibt jedoch auch Kritik wegen steigender Mieten und den Vorwurf der Öko-Gentrifizierung.
Singapur verkörpert gewissermassen das Ideal einer grünen und dichten Stadt. 1967 gab Premierminister Lee Kuan Yew der rapide wachsenden Metropole den Namen «Garden City», seit 1998 heisst sie «A city in a garden». Seither hält die Regierung staatliche und private Entwickler dazu an, Grünflächen in städtebauliche Entwürfe zu integrieren. Das Ergebnis sind spektakuläre Fassadenbegrünungen und tropische Gärten auf weitläufigen Terrassen in luftiger Höhe. Das «Green Heart» im Finanzdistrikt Marina Bay ist dafür ein eindrückliches Beispiel: Zwischen vier Wolkenkratzern eröffnet sich über mehrere Stockwerke hinweg ein öffentlich zugänglicher Park mit 350 tropischen Pflanzen und Bäumen (Bild 4).
Albtraum Hitzeinsel
Gemäss Uno werden bis 2050 rund 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben; aktuell sind es 55 Prozent. Dieses Wachstum, gepaart mit zunehmenden Hitzewellen, Extremwettern und schadstoffbelasteter Luft – bei Küstenstädten kommt noch der Anstieg des Meeresspiegels hinzu –, stellt Architektur und Städteplanung vor enorme Herausforderungen. Christophe Girot, Landschaftsarchitekt und ETH-Professor, sagt es so: «Im 21. Jahrhundert wird Städteplanung vermehrt zur Landschaftsplanung.» Hatten Grünflächen in der Stadtplanung lange eher einen dekorativen Charakter, so übernehmen sie in Zeiten der Klima- und Biodiversitätskrise zunehmend zentrale Funktionen.
Zum Beispiel zur Regulierung des Mikroklimas. Besonders in Metropolen entlang des tropischen Gürtels – wie Jakarta, Manila, Bangkok und Singapur – wird die urbane Hitze immer mehr zu einem gesundheitlichen und energetischen Albtraum. In Singapur herrschen an zentralen, stark verdichteten Orten zeitweise bis zu 7 Grad Celsius höhere Temperaturen als in weniger dicht bebauten Gegenden mit viel Grünflächen. Das liegt an versiegelten Teerböden und Betonfassaden, die die Wärme der Sonneneinstrahlung speichern. Hinzu kommen Autos, Industrie und die Stromproduktion, basierend auf fossilen Energieträgern. Die Stadt versucht mit Tausenden Klimaanlagen dagegen anzukämpfen und hat heute die höchste Dichte an Klimaanlagen in ganz Südostasien. Diese fressen jedoch Unmengen an Strom und treiben das Phänomen der Hitzeinsel durch ihre Abwärme weiter an. Ein Teufelskreis.
Künstliche Nebelwolke
Forschende am FCL arbeiten aktuell mit einem Datenmodell der Stadt, einem «digitalen urbanen Klimazwilling», an dem Städteplaner verschiedene Interventionen virtuell testen können. Das Modell enthält Daten zu Gebäuden, Verkehr, Vegetation, Oberflächen, Wind, Sonneneinstrahlung und Bewegungsmustern der Bevölkerung. Die Planerinnen können simulieren, wie es sich aufs lokale Klima auswirkt, wenn Gebäudeensembles anders positioniert werden oder dunkle Flächen, wie Asphaltstrassen und Gebäudefassaden, durch hellere ersetzt werden.
Auch in Zürich wird der Hitzeinseleffekt zunehmend ein Problem. Laut Berechnungen des Immobilienberaters Wüest Partner, basierend auf einem moderaten Klimaszenario, werden in der Stadt die jährlichen Hitzetage mit über 30 Grad Celsius bis 2060 gegenüber der Normperiode von 1981 bis 2010 um rund 19 Tage zunehmen. Das wirkt sich negativ auf das Wohlbefinden allgemein, die Schlafqualität, die Arbeitsproduktivität und die Gesundheit aus. Grüne Infrastrukturen wären eine wirkungsvolle Gegenmassnahme, allen voran Bäume. Der ETH-Geoökologe Jonas Schwaab hat mit Satellitendaten zu 293 europäischen Städten den Einfluss der Vegetation auf die Temperaturen ausgewertet. Er kommt zum Schluss, dass in den Städten Mitteleuropas die Oberflächentemperatur durch zusätzliche Bäume um 8 bis 12 Grad Celsius gesenkt werden könnte.
Zürich hat der Hitzeinsel mittlerweile den Kampf angesagt: Im Koch-Areal, nördlich von Zürich-West, zwischen Altstetten und Sihlfeld, sollen bis 2025 insgesamt 325 gemeinnützige Wohnungen für 900 Personen, ein Gewerbehaus und ein 12 000 Quadratmeter grosser Quartierpark entstehen. Bei der Ausschreibung für die Bebauung machte die Stadt erstmals die Vorgabe, dass Projekte einen positiven Beitrag zum Stadtklima leisten müssen. Beim Siegerprojekt sind die Baukörper so gesetzt, dass die Luft gut zirkulieren kann und den Raum natürlich kühlt.
Im Frühling 2020 präsentierte die Stadt eine Planungsgrundlage für das Stadtklima, im März 2021 folgte die Verabschiedung des Massnahmenplans zur Hitzeminderung. Basierend auf einer Klimaanalyse des Kantons werden dort Massnahmen beschrieben, um die Wärmebelastung im Aussenraum zu verringern. Eine ungewöhnliche Innovation wird im Sommer 2022 erstmals beim Turbinenplatz in Zürich-West getestet: eine künstliche Nebelwolke. Über einen aufgehängten Ring mit feinen Düsen wird Wasser versprüht und damit die Umgebung abgekühlt. Zudem werden private Fassaden- und Dachbegrünungen seit Dezember 2021 von der Stadt mit je maximal 30 000 Franken unterstützt.
Fusswege statt Strassen
Die zunehmende Begrünung der Innenstädte entspricht einem weiteren städtebaulichen Trend: der 10- oder 15-Minuten- Stadt. Das Konzept geht zurück auf Carlos Moreno, Professor für komplexe Systeme an der Universität Sorbonne und Sonderbeauftragter für intelligente Städte in Paris. Seine Idee: Alle wichtigen Funktionen des täglichen Lebens – Einkaufen, Gesundheitsversorgung, Ausbildung, soziale Kontakte, Arbeit und Erholung – sollen in 15 Minuten zu Fuss oder in fünf Minuten mit dem Velo verfügbar sein. Moreno ist zur Galionsfigur einer Bewegung geworden, die dagegen ankämpft, dass Städte seit Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem nach Bedürfnissen von Autofahrenden geplant wurden. Heute sind weltweit rund 1,3 Milliarden Autos in Betrieb – davon allein in Europa 300 Millionen. Laut Daten der OECD haben
Transportinfrastrukturen, allen voran Autostrassen, im Jahr 2006 zwischen 25 und 40 Prozent des öffentlichen Raums in Städten verschlungen. Moreno will diese wieder zum Spazieren, Velofahren und für gemeinschaftliche Aktivitäten zugänglich machen. Dadurch entstehen besser vernetzte Quartiere mit einer höheren Lebensqualität, so seine Überzeugung. Und dies bei weniger individuellem Freizeitverkehr, reduziertem Energieverbrauch und weniger Treibhausgasemissionen.
Auch Singapur hat sich die kurzen Wege auf die Fahne geschrieben. Es probt eine Zehn-Minuten-Regel: Bis 2030 sollen alle Bewohnerinnen und Bewohner in höchstens zehn Minuten zu Fuss einen Park erreichen können. Zugleich wird die Nahrungsmittelproduktion lokalisiert. Laut einer Befragung von 2020 mit 1500 Bürgerinnen und Bürgern wünschen sich 94 Prozent lokal produzierte Nahrungsmittel. Aktuell werden jedoch 90 Prozent der Esswaren importiert. Laut dem Singapore Green Plan 2030 sollen bis ins Jahr 2030 bereits 30 Prozent der Nahrungsmittel auf der Insel produziert werden. Dafür wird derzeit mit vertikalen Farmen in Hochhäusern und Gemüsefeldern auf Dächern experimentiert.
Veränderung durch Pandemie
In Zürich-West sieht die Stadtforscherin bereits viel von einer 15-Minuten-Stadt umgesetzt. Auf Velostreifen flitzen Velos vorbei; die umliegenden Quartiere sind einfach zu Fuss zugänglich. Die Durchmischung von Wohnen, Arbeiten, Lernen, Essen und Einkaufen bewertet Michelle Yingying Jiang als ausgeglichen. «Damit wird auch verhindert, dass nach Arbeitsschluss tote Stadtviertel entstehen.»
Geht es nach dem im November 2021 von der Stadtbevölkerung verabschiedeten kommunalen Richtplan, so will Zürich die Wege künftig weiter verkürzen und 49 Quartierzentren durch attraktiv gestaltete Achsen noch besser miteinander verbinden. Für Jiang zeichnet die erfolgreiche Stadt der Zukunft noch eine weitere Eigenschaft aus: Flexibilität. «Die Pandemie hat das Bewusstsein dafür nochmals verstärkt», ist sie überzeugt. «Von einem Tag auf den anderen arbeiten Tausende von zu Hause aus – ganze Bürotürme stehen leer. Wir brauchen multifunktionale Gebäude und Städte, die sich an kontinuierliche Veränderungen anpassen können.»
Die letzte Station unseres Rundgangs durchs ehemalige Industriequartier ist das Bahnviadukt nahe der Hardbrücke. 1894 gebaut, dienten die hohen Bögen einst Steinhauern als Unterstand für ihr Handwerk. Nach einem Neunutzungsprojekt haben sich in den Bögen ein überdachter Lebensmittelmarkt, Veranstaltungsräume, Restaurants und eine Reihe von Kleider- und Möbelgeschäften eingerichtet. Hier zeigen sich für die Stadtforscherin auch die Grenzen des Vergleichs mit Singapur.
«Für europäische Städte, die auf eine mehrere hundert Jahre alte Geschichte zurückblicken, ist ein sorgfältiger Umgang mit dem Bestand zentral.» Ganz anders als in Singapur oder in China, wo viele Städte erst in den letzten Jahrzehnten entstanden sind und quasi auf dem Reissbrett geplant wurden. «Umnutzungen von bestehender Infrastruktur machen Städte interessant und nachhaltig», ist Jiang überzeugt. «Sie sagen etwas über die Geschichte und die Kultur in diesem Quartier und der Stadt aus. Das stiftet Identität.»