REPORTAGE
Die Kammer der Neutronen
In einer riesigen Halle im Aargau tüfteln Forschende an den Grundbausteinen der Physik: Zu Besuch in einer Welt, wo fast nichts zu sehen, aber viel zu entdecken ist.
In der grossen Halle des Paul-Scherrer-Instituts (PSI) herrscht eine konzentrierte Ruhe. Draussen peitscht der Frühlingswind den Regen in die Gesichter. Drinnen ist es warm und geschützt. Ein Industriekran gleitet fast lautlos durch den Raum und bringt tonnenschwere Betonelemente an den richtigen Ort. Arbeitende nehmen sie in Empfang und stapeln sie wie Legosteine ordentlich aufeinander. Darunter liegt versteckt das Herzstück des PSI: die Protonenbeschleunigungsanlage.
«Hier sieht man das grosse Ringzyklotron», sagt Klaus Kirch und zeigt in eine Ecke der Halle. Der Leiter des Labors für Teilchenphysik am PSI erklärt die Funktionsweise der Anlage, die seit 1974 im aargauischen Villigen steht. Das Ringzyklotron – ein Teil des Beschleunigers – hat einen Durchmesser von 15 Metern und verbirgt sich unter zwei Metern Beton, der die Forschenden vor Strahlung schützt.
«Im Inneren werden Protonen von acht jeweils 240 Tonnen schweren Magneten auf ihrer Bahn gehalten und auf 80 Prozent Lichtgeschwindigkeit beschleunigt», sagt Kirch. Auf einer Tafel zeigt er, wie der Protonenstrahl auf immer grössere Umlaufbahnen geschickt und dann durch die Halle zu den eigentlichen Experimentieranlagen geleitet wird. Dort sitzen verschiedene Detektoren, die für Experimente in der Schweizer Forschungsinfrastruktur für Teilchenphysik (CHRISP) genutzt werden.
Einer der stärksten Protonenstrahlen «In der experimentellen Teilchenphysik gibt es zwei grosse Trends», sagt Kirch. «Zum einen kann man einzelne Teilchen mit immer höherer Energie versehen und durch Kollisionen versuchen, neue Teilchen zu erzeugen.» Das geschehe zum Beispiel am Large Hadron Collider im Cern.
Am PSI verfolgt man jedoch einen anderen Ansatz. Dabei werden besonders intensive Teilchenstrahlen erzeugt. «Damit untersuchen wir seltene Prozesse und müssen präzise messen können.» Das Ziel: Signale finden, die vom Standardmodell der Teilchenphysik nicht erklärt werden können. Dieses beschreibt drei der vier uns bekannten fundamentalen Kräfte im Universum und klassifiziert alle bekannten Elementarteilchen.
Beim Besuch steht die Anlage still. Es ist Revisionszeit. Überall überprüfen Menschen auf ihren Displays Zahlen und Codes. Andere verkabeln Geräte oder richten die Experimentierplätze ein. Wenn danach wieder alles abgeschirmt und zusammengebaut ist, schiesst aus dem Ringzyklotron einer der stärksten Protonenstrahlen der Welt.
Wider bisherige Annahmen
Nach einer Linkskurve kollidiert er dann kurz hintereinander mit zwei Ringen aus Grafit, die in den Strahl hineinragen. «Durch den Aufprall auf die Kohlenstoffatomkerne im Target entstehen zuerst Pionen», erklärt Kirch. «Diese aus zwei Quarks bestehenden Teilchen zerfallen anschliessend in Sekundenbruchteilen in Myonen.»
Diese Elementarteilchen sind die Grundlage für viele Experimente an CHRISP. Sie ähneln Elektronen, sind aber rund 200-mal schwerer und können im PSI in grosser Menge produziert werden. Dank der vergleichsweise geringen Geschwindigkeit werden auch einzigartige Experimente möglich, um die dunklen Stellen des Standardmodells auszuleuchten.
Nach einem Spaziergang zwischen Schaltschränken und über Treppen und Galerien gelangen wir zu einem dieser Experimente: MEG II. Hinter einer Plastikfolie befindet sich ein langes Rohr, umgeben von Kabeln, Magneten und Messgeräten. Ein Forscher klettert auf den Detektor und überprüft Verbindungen.
«Mit MEG II erforschen wir an CHRISP den Zerfall von Myonen. Dabei suchen wir nach Zerfallsprozessen, die es im Standardmodell eigentlich nicht geben dürfte», sagt Kirch. Myonen haben eine extrem kurze Lebensdauer und zerfallen nach rund 2,2 Mikrosekunden in andere, stabilere Teilchen – meist ein Positron und zwei Neutrinos. In extrem seltenen Fällen könnten auch andere Zerfallspfade möglich sein.
Billionen von Myonen
Beobachtet wurde das jedoch noch nie. «Wir wollen messen, wie wahrscheinlich der Zerfall eines Myons in ein Positron und ein Photon, also ein Lichtteilchen, ist.» Würde ein solcher Prozess am PSI beobachtet werden, wäre das eine Sensation. «Wir suchen nach etwas, was noch niemand gesehen hat. Aber mit einem so intensiven Strahl wie hier am PSI steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir es finden könnten.»
Im Vorgängerexperiment, das von 2009 bis 2013 lief, zeigte sich, dass höchstens eines von 2,4 Billionen Myonen den gesuchten Zerfall in ein Positron und ein Photon durchmachen kann, denn so viele Myonenzerfälle wurden beobachtet, ohne dass das aussergewöhnliche Ereignis eingetreten ist. Trotzdem war es kein Misserfolg, verschob es doch die Grenze des theoretisch Möglichen und ist damit aufschlussreich für die Grundlagenforschung.
Wenige Meter entfernt wird bald mit einem verwandten Experiment nach einem weiteren, gemäss Standardmodell «eigentlich verbotenen » Zerfallsprozess von Myonen gesucht. Mit MU3E wird gemessen, ob Myonen manchmal auch in drei Elektronen – zwei positiv, eines negativ geladen – zerfallen. «Wenn das Experiment läuft, lassen sich hier pro Sekunde eine Milliarde Myonenzerfälle beobachten», sagt Kirch.
Eine Menge Daten, die rekonstruiert und für die spätere Analyse sondiert werden müssen. Auch hier arbeitet ein Forscher noch am Detektor von MU3E, um diese hochpräzise Messung möglich zu machen – direkt neben einem dunkelgrünen Metallzylinder mit zwei Metern Durchmesser, der bald das Experiment ummanteln soll.
Durch die Hallenwand aus Beton gelangt man auf die andere Seite von CHRISP. Hier stehen nicht Myonen im Zentrum, sondern sogenannte ultrakalte Neutronen – Teilchen mit extrem geringer Energie. Mit einem sogenannten Kicker lässt sich der Protonenstrahl wie mit einer Weiche aus der Haupthalle dorthin umleiten. Hier werden Neutronen aus den Atomkernen geschlagen und so stark abgebremst, dass man im Laufschritt neben ihnen hereilen könnte.
«Wir können diese dann in Behälter einsperren und für ein Langzeitexperiment zum elektrischen Dipolmoment des Neutrons verwenden», erklärt Bernhard Lauss, der die Forschung mit den ultrakalten Neutronen leitet. Das elektrische Dipolmoment misst, wie unterschiedlich in einem Körper positive und negative elektrische Ladungen verteilt sind.
Warum es Materie gibt
Gemäss der gängigen Theorie der Elementarteilchen sollten Neutronen eigentlich kein messbares elektrisches Dipolmoment aufweisen – es gäbe also im Inneren des Teilchens keine Ladungsunterschiede. «Stark vereinfacht will das Experiment N2EDM feststellen, ob sich das Neutron in einem elektrischen Feld ein wenig dreht», erklärt Lauss. «Das könnte bedeuten, dass es dieses Dipolmoment eben doch gäbe.»
Würde ein solches Resultat gefunden, liesse sich auch besser erklären, warum es im Universum überhaupt Materie gibt. «Gemäss Standardtheorie sollte es etwa gleich viel Materie wie Antimaterie geben.» Doch die Antimaterie ist nirgends mehr zu sehen.
Damit das gemessen werden kann, müssen genau kontrollierte magnetische Bedingungen herrschen. Denn das Experiment ist extrem empfindlich auf die kleinsten Veränderungen der Magnetfelder. «Fährt ein Lastwagen am PSI vorbei, verändert sich das Magnetfeld», erklärt Georg Bison, der für die Abschirmkammer verantwortlich ist: Eine grosse Holzhütte dient als Verschalung. Auf der Innenseite gleichen über fünfzig Kilometer Kabel selbst kleinste magnetische Schwankungen aus.
Auch sonst muss peinlichst genau darauf geachtet werden, dass die Neutronen ungestört vermessen werden können. In der Holzhütte befindet sich ein weisser Würfel, in dem das eigentliche Experiment stattfinden wird. In dessen Wänden stecken mehrere Lagen einer Nickel-Eisen-Legierung. Gesamtgewicht: 45 Tonnen. Drei Türen dieses mystischen Tresors müssen geöffnet werden, bis sich der Blick ins Innere öffnet.
Alles auf die Sensation
Zudem gilt: Schuhe wechseln oder Überschuhe anziehen. Denn es darf kein magnetischer Staub in die Experimentierkammer getragen werden. «Ein magnetisches Stäubchen an der falschen Stelle und das ganze Experiment ist kaputt», sagt Bison.
Bei N2EDM sind 14 verschiedene Forschungsgruppen beteiligt. Rund 2,4 Millionen Franken kostete allein der magnetisch abgeschirmte Raum, ein Unikat – finanziert von ETH Zürich, PSI und dem Schweizerischen Nationalfonds. Wie bei der Forschung mit Myonen halten Lauss und seine Mitstreitenden Ausschau nach etwas, was es eigentlich nicht geben sollte. Und auch hier förderte das viel kleinere Vorgängermodell ein Nullresultat zutage. Doch Kirch, Lauss und Bison geben nicht auf und setzen alles daran, dass sich die Sensation am PSI materialisiert.