Standpunkt
«Man hat schon eine Beziehung zu den Gletschern»
Je weniger der Glaziologe misst, desto mehr wollen die Medien wissen: Matthias Huss von der ETH Zürich beobachtet und kommuniziert seit Jahren hartnäckig die grosse Gletscherschmelze. 2022 war alles extremer denn je.
Matthias Huss, Sie haben diesen Sommer mit einem Tweet viel Aufmerksamkeit erregt. Es ging um das bittere Ende der Messungen am Corvatschgletscher. Haben Sie das erwartet?
Bei Tweets weiss man ja nie so richtig. Wobei Gletscher derzeit viel Aufmerksamkeit bekommen. Im Herbst hat unser Bericht zur Gesamtschmelze der Schweizer Gletscher 2022 viel internationales Echo gefunden. Ich war überrascht, wie weit die Meldung gegangen ist.
Warum wohl so viel Resonanz?
Die Gletscherschmelze bringt die Klimaerwärmung besonders anschaulich auf den Punkt. Zudem verbinden die Menschen Gletscher mit Positivem aus den Ferien, von Wanderungen.
Sie waren bei SRF zu sehen, in der BBC, bei CNN. Mögen Sie diese Arbeit?
(Lacht.) Gute Frage. Damals war es sehr intensiv. Ich habe tagelang fast nichts anderes gemacht, als Interviews zu geben. Dabei bin ich eigentlich für die Wissenschaft angestellt. Ich hatte irgendwann schon ein bisschen genug.
Trotzdem kommunizieren Sie hartnäckig.
Beim Gletschermessnetzwerk Glamos bekommen wir Bundesgelder. Ich sehe es als unsere Verantwortung, die Resultate an die Bevölkerung zurückzugeben, und mache Medienarbeit eigentlich sehr gerne.
Ihre Forschung ist zum Symbol für den verlorenen Kampf gegen die Erwärmung geworden. Wie geht es Ihnen dabei?
Das Ende des Pizolgletschers im vergangenen Jahr hat mich persönlich sehr getroffen. Das war mein Baby. Dort hatte ich vor 16 Jahren als junger Forscher angefangen. Man hat schon eine Beziehung zu den Gletschern, es macht traurig, ihr Sterben zu erleben.
Sie sind sehr aktiv auf Twitter und verwenden starke Adjektive wie «beyond extreme», «shocking». Da droht der Alarmismus-Vorwurf.
(Lacht.) Wir haben kürzlich im Team darüber diskutiert. Es sind starke Begriffe, ja. Aber wenn wir sie nicht jetzt brauchen können, wann dann? Das Ausmass des diesjährigen Eisverlustes von sechs Prozent des verbleibenden Volumens hat mich echt schockiert. Mir hat niemand Alarmismus vorgeworfen.
Oder Aktivismus?
Ich betrachte mich nicht als aktivistisch. Auch wenn ich die Anliegen des Klimaschutzes als Privatperson unterstütze, muss ich als Wissenschaftler meine Meinung unabhängig sagen können, aufgrund von Evidenz. Deswegen habe ich auch nicht im Komitee der Gletscherinitiative mitgemacht, als ich angefragt wurde. Die Evidenz muss ich aber so rüberbringen, dass sie nicht versickert.
Wie behalten Sie die Motivation, wo die Gletscher wortwörtlich bachab gehen?
Das steigert meine Motivation eher. Der Courant normal kann langweilig sein. Die Extremjahre zeigen, wie gewaltig die Veränderungen sind. Und bekräftigen die Wichtigkeit der Daten, um den Verlust festmachen und kommunizieren zu können.