Fokus: Wissenschaft im Bundeshaus
Die Meinung geändert dank Forschung
Bisweilen überdenken Parlamentarierinnen und Parlamentarier ihre politische Haltung, wenn die Wissenschaft Neues zutage fördert. Fünf Beispiele.
«Der Klimawandel stand auf meiner Prioritätenliste bis vor ein paar Jahren relativ weit unten. Nicht, dass ich ihn nicht als Problem wahrgenommen hätte, aber ich fand, dass wir eigentlich schon genug unternehmen. Es waren Klimaexperten wie Thomas Stocker oder Reto Knutti, die mich eines Besseren belehrten. Diesen Fachleuten gelingt es immer wieder, wissenschaftliche Arbeiten glaubwürdig zu vermitteln. Denn seien wir ehrlich: Wenn ich alle paar Wochen einen zweihundertseitigen Klimabericht lesen müsste, käme ich nicht weit. Auch als Politiker bin ich angewiesen auf Menschen, die mir komplexe Zusammenhänge anschaulich erklären.
Heute steht die Dringlichkeit des Klimaschutzes für mich ausser Frage und beeinflusst auch meine politischen Positionen: So habe ich mich 2021 für die Revision des Energiegesetzes im Kanton Zürich ausgesprochen. Sie sieht etwa vor, dass Öl- und Gasheizungen durch eine umweltfreundliche Lösung ersetzt werden. Vor fünf Jahren hätte ich die Idee sicher ebenfalls gutgeheissen, aber die Menschen wohl nicht gesetzlich dazu verpflichten wollen. Das sehe ich heute anders. In meiner Partei kommt diese Haltung gut an. Kolleginnen anderer Parteien lassen hingegen schon mal die Bemerkung fallen, ob ich vom Weg abgekommen sei oder gar zu den Grünen gewechselt habe.»
«Als ich jünger war, lehnte ich eine Entkriminalisierung des Drogenkonsums strikt ab. Eine Lockerung wäre ganz klar der falsche Weg, fand ich, tue sich das Land doch bereits schwer genug damit, die Folgen des Konsums von legalen Suchtmitteln wie Tabak und Alkohol zu bewältigen. Meine Haltung fusste nicht auf Studien oder Expertenberichten, sondern auf persönlichen Überzeugungen – und Erfahrungen: Ich hatte als Jugendlicher miterlebt, wie eine Schulkollegin mit nur fünfzehn Jahren an einer Überdosis Heroin gestorben war. Das war ein grosser Schock und prägte mich. Um Kinder und Jugendliche, ja die Gesellschaft besser zu schützen, müsse die Schweiz sogar noch restriktivere Massnahmen ergreifen als bis anhin, war ich überzeugt. Entsprechend stellte ich mich 2008 im Gegensatz zu den meisten meiner Parteikolleginnen und Parteikollegen auch gegen die Revision des Betäubungsmittelgesetzes.
Es waren nicht nur Erfahrungsberichte aus diversen Bundesstaaten der USA, in denen der Versuch einer liberaleren Drogenpolitik keineswegs in einer Katastrophe gemündet hatte, die mich später immer mehr umdenken liessen, sondern vor allem auch die vielen Diskussionen mit der Westschweizer Vereinigung für Suchtforschung Grea. Ich begann zu verstehen, dass Bestrafung nicht funktioniert und der Krieg gegen Drogen nicht zu gewinnen ist. Heute bin ich ganz klar für eine Entkriminalisierung – und zwar nicht nur bei sogenannt weichen Drogen wie Cannabis, sondern auch bei harten wie Heroin oder Kokain. Süchtige sind nicht Täterinnen und Täter, sondern Menschen, die Hilfe brauchen.»
«Ich bin im Wallis aufgewachsen, auf 1500 Metern über Meer. Schon als Kind hat mir mein Vater erzählt, welche Gletscher seine Grossmutter einst noch vom Dorf aus habe sehen können, die heute lange aus unserem Sichtfeld verschwunden sind. Der Klimawandel beschäftigt mich persönlich und politisch schon seit mehr als zwanzig Jahren, obwohl ich nicht Naturwissenschaftlerin, sondern Historikerin bin. Gut möglich, dass meine Biografie da mit ein Grund ist.
Das Wissen um die Folgen des Klimawandels blieb trotzdem stets bis zu einem gewissen Grad abstrakt. Umso mehr haben mich in den letzten Jahren die Bilder beeindruckt, die dieses Vorher und Nachher von Gletschern festhalten, das wahnsinnige Tempo, in dem diese heute einfach unter unseren Füssen wegschmelzen.
Besonders ein Foto aus diesem Sommer lässt mich nicht mehr los: Es zeigt den Glaziologen Matthias Huss auf dem Aletschgletscher, eine Stange geschultert, die misst, wie viele Meter der Gletscher seit dem vergangenen Jahr weiter geschrumpft ist. Es sind sechs Meter! Das entspricht fast zwei Stockwerken eines Wohnhauses! Mit einem solchen Bild rücken die dramatischen Konsequenzen des Klimawandels auf einen Schlag ganz nah.
Ich glaube, dass starke Visualisierungen eine sehr wichtige Rolle spielen, damit wissenschaftliche Erkenntnisse in der öffentlichen Diskussion und auch in der Politik ankommen. Erst wenn wir vor uns sehen, dass der Klimawandel seine Spuren viel näher hinterlässt, als wir vielleicht denken, dürfte auch den Letzten klar werden, dass dringend gehandelt werden muss. Mir zeigen solche Bilder auf jeden Fall noch einmal in aller Deutlichkeit, dass es nicht fünf vor zwölf ist – sondern fünf nach.»
«Eine hohe Staatsverschuldung gefährdet das Wirtschaftswachstum und die Stabilität der Volkswirtschaft – davon war ich in meiner ersten Legislaturperiode als Nationalrat fest überzeugt. Entsprechend habe ich bis vor einigen Jahren eine eher restriktive Finanzpolitik vertreten und den mit der Schuldenbremse einhergehenden Abbau von Staatsschulden klar befürwortet.
Als ich aber damit begann, mich stärker mit den wissenschaftlichen Grundlagen dazu auseinanderzusetzen – vor allem aus beruflichen Gründen, ich bin Dozent für Finanzpolitik an der Hochschule Luzern –, wurde mir rasch klar: Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur keinen kausalen Zusammenhang zwischen Staatsverschuldung und Wirtschaftswachstum. Es lässt sich also keineswegs sicher sagen, ob hohe Staatsschulden für weniger Wirtschaftswachstum sorgen – oder ob nicht umgekehrt geringes Wachstum zu grösseren Schulden führt.
Heute steht für mich fest: Der Bund darf sich auch noch stärker verschulden, wenn es darum geht, die grossen Herausforderungen unserer Zeit wie Klimawandel oder Schutz der Biodiversität zu bewältigen. Nicht immer ist es die vernünftigste Lösung, Schulden einfach so schnell wie möglich abzubauen. So bin ich zum Beispiel im Komitee der Klimafonds-Initiative, die unter Umgehung der Schuldenbremse einen staatlichen Klimafonds einrichten will. Die Staatsverschuldung in unserem Land ist so tief, dass wir uns keine Sorgen um die Volkswirtschaft und das Wohl zukünftiger Generationen zu machen brauchen.»
«Frühförderung ist ein ganz zentrales Anliegen in meiner politischen Arbeit. Das war aber nicht immer so. Obwohl ich mich schon sehr lange mit Bildungsthemen beschäftigte, fielen die ersten Lebensjahre eines Kindes für mich früher diesbezüglich wenig ins Gewicht. Spielgruppe und Kindergarten fand ich zwar eine gute Sache, aber hielt sie nicht für entscheidend für den späteren Schulerfolg. Das eigentliche Lernen beginnt in der Primarschule, war ich der Meinung, auch bei meinen eigenen Kindern.
Heute weiss ich, dass wir diese Lebensphase viel ernster nehmen müssen: Die Unterstützung der frühkindlichen Entwicklung bringt nicht nur Kindern und ihren Familien enorm viel, sondern auch der Gesellschaft als Ganzer. Frühförderung trägt ganz wesentlich zur kognitiven, sozialen und emotionalen Entwicklung eines Kindes bei.
Es waren die vielen Studien der Universität Freiburg zum Thema, die damals meine Sicht verändert haben, ganz besonders aber die Arbeit von Martin Hafen, der Soziologe und Dozent an der Hochschule Luzern ist. Er machte mir deutlich, wie die frühe Kindheit als Interventionsfeld für praktisch jede Prävention von zentraler Bedeutung ist. In der Folge habe ich mich unter anderem für die flächendeckende Einführung von Spielgruppen in der Stadt Basel eingesetzt. Sie sollen gerade Kinder aus benachteiligten Familien früh mit dem Schweizer Schulsystem vertraut machen und ihre sprachliche Entwicklung unterstützen. Ein Konzept, das inzwischen auch viele andere Städte und Kantone übernommen haben.»
Nicht alle Parteien haben sich auf die Frage, ob sie schon einmal aufgrund von Forschungsergebnissen ihre Meinung geändert hätten, gleichermassen eingelassen. Teilweise war viel Beharrlichkeit nötig. Mit der SVP hat es leider gar nicht geklappt.