REPORTAGE
Imperien aus Hitze und Staub
Auf dem Hügel von Sirkeli in der Südtürkei kommen die vergangenen Jahrtausende ans Tageslicht – Keramikstück für Keramikstück. Eine Expedition in die tiefe Antike.
In dem Moment, als die Sonne aufgeht, trifft der Dorfbus mit einer Gruppe von 28 Archäologinnen und Archäologen ein. Sie kommen aus der Türkei und aus der Schweiz. In der frischen Morgenluft steigen sie auf die Anhöhen, in denen jahrhundertealte Siedlungen verborgen liegen. Die 80 Hektaren grosse Fläche auf dem Hügel Sirkeli befindet sich nahe der Stadt Adana im Südosten der Türkei. Auf einer Seite liegt der Fluss Ceyhan, auf der anderen eine historische Burg des armenischen Königreichs.
Überall treffen sie auf tiefe Schichten antiker Geschichte. Diese Region – das antike Kilikien und heutige Südanatolien in der Türkei – wurde erstmals in der Jungsteinzeit besiedelt. Dann folgten hethitische, hellenistische, römische, armenische und islamische Zivilisationen. Das älteste hethitische Felsrelief Anatoliens wurde im Nordosten des Hügels entdeckt.
Es zeugt vom Sieg des hethitischen Grosskönigs Muwatalli II. (1290–1272 v. Chr.) im Krieg gegen den bekannten ägyptischen Pharao Ramses II. Muwatalli II. steht mit erhobener Hand da, als würde er beten, in der anderen Hand hält er einen langen Krummstab. Die beiden Könige lieferten sich in der Nähe der heutigen syrischen Stadt Homs eine der berühmtesten Schlachten der Bronzezeit.
Auf der Grabungsstätte Sirkeli Höyük gibt es aber Funde aus den verschiedensten Zeiträumen. Mirko Novák, einer von zwei Co-Leitenden von der Universität Bern, die seit 2011 ihre Teams hierher schicken, erklärt: «Wir sind an allen Perioden interessiert, aber natürlich muss man sich zu Beginn mit den jüngsten Zeiträumen beschäftigen. In den ersten Jahren unserer Arbeit fokussierten wir auf die Eisenzeit mit den verschiedensten Kulturen, die hier in Kilikien ihre Spuren hinterlassen haben.»
Labor im alten Bahnhof der Baghdad Railway
Inzwischen haben die Forschenden diejenigen Schichten erreicht, in denen die Funde von Zivilisationen aus der mittleren Bronzezeit (gemäss Chronologie des Nahen Ostens) zeugen. Der Schwerpunkt verschiebt sich allmählich auf die Zeit um 1900 vor Christus. Zu den wichtigsten Mächten gehörten damals Babylon, Aleppo und Assur.
Die erste Ausgrabung auf dem Sirkeli war 1936 von einem englischen Team organisiert worden. Heute hingegen finanzieren ausschliesslich Schweizer Quellen die Grabungen. Laut Novák möchte die Universität Bern damit zum Verständnis der Kulturgeschichte Kilikiens beitragen. Das Team untersucht vor allem «die Stadtentwicklung in allen Perioden und die Veränderungen in den Keramikstücken, die Indikatoren für die kulturellen Identitäten sind». Der Archäologe hofft, irgendwann alle Funde in einer Ausstellung in Bern zeigen zu können.
Sirkeli Höyük ist der grösste Hügel der Region und der einzige, auf dem antike Siedlungen und Felsreliefs nebeneinander zu finden sind. Gemäss der Co-Leiterin Deniz Ya in Meier sind andere bedeutende kilikische Grabungshügel von modernen Wohnsiedlungen umgeben, was die Forschungsmöglichkeiten einschränkt.
In Sirkeli gibt es derzeit vier aktive Ausgrabungsorte, an denen regelmässig 4000 Jahre alte Keramikstücke und Haushaltgegenstände zutage gefördert werden. Jeden Tag werden Eimer mit Steinen und Scherben in ein Forschungszentrum – ein umgebauter ehemaliger Bahnhof der Baghdad Railway – gebracht, entstaubt und gewaschen. Die wichtigsten Fundstücke werden etikettiert und in Kategorien eingeteilt.
Die Arbeit ist staubig und mühsam, aber die Forschungsgruppe ist von den Ergebnissen begeistert. Zum Team gehört auch Julien Rösselet, der vor Kurzem sein Studium an der Universität Bern abgeschlossen hat. Er arbeitet hier zusammen mit seiner Freundin Joëlle Heim, die als Doktorandin die Architektur von Sirkeli und Kilikien erforscht. Im Laufe des Vormittags steigen die Temperaturen, und Rösselet findet es fast «unerträglich schwül».
Die Ausgrabungsarbeiten werden ausschliesslich in den Sommermonaten durchgeführt, weil die Forschenden im Winter ihren schriftlichen akademischen Projekten nachgehen. Beim Frühstück – drei Stunden nach der Ankunft des Teams an der Bushaltestelle – besprechen die Archäologen bereits die ersten Funde des Tages miteinander.
Mit Turban oder Indiana-Jones-Hut
Dann machen sie sich wieder auf den Weg, mit Baseballmützen oder Turbanen, um ihre Köpfe vor der sengenden Sonne zu schützen. Rösselet motiviert sich zum Weitermachen, indem er an die «coole Zeit» in seiner Hängematte denkt, wenn er – wie das ganze Team – nach dem Mittagessen eine Siesta hält. «Einige machen sich selber Lollies aus Eis, um die Hitze zu überstehen», erzählt er.
Geschützt durch einen grossen Hut im Stil von Indiana Jones arbeitet Rösselet jeden Tag am kniffligen Puzzle der Ausgrabung mit und bahnt sich seinen Weg durch 20 übereinanderliegende Schichten der Geschichte. Besonders freut er sich über einen Fund, den er im vergangenen Jahr gemacht hat: eine Terrakotta-Figur, die eine stehende Frau aus der Eisenzeit darstellt und grosse Ähnlichkeiten mit assyrischen und babylonischen Stücken aufweist.
Sie ist nun im Museum der Stadt ausgestellt, wie er erzählt. Um 13 Uhr schliesslich rufen eine Bahnhofsglocke und ein lautes Horn das Team zur Mittagspause. Neben vier historischen, fast hundert Jahre alten Holzwaggons der Bagdhad Railway wird dann unter alten Maulbeerbäumen gegessen.
Neben der drückenden Hitze gibt es weitere Herausforderungen. Da die Schweizer Forschenden auf türkischem Boden arbeiten, müssen sie wie alle ausländischen Forschenden ausführliche Anträge für eine Arbeitsgenehmigung stellen. Die Bürokratie für die jährliche Ausgrabung nimmt jeweils ein halbes Jahr in Anspruch. Eine weitere Herausforderung ist das knappe Budget, auch weil eine türkische Beteiligung fehlt. Wegen der beschränkten finanziellen Ressourcen ist vieles begrenzt: Geld für Werkzeuge, Anzahl der Tage im Feld und Anzahl Mitarbeitende.
Dennoch wird alles getan, was möglich ist, wenn es um Analysen und Auswertungen geht. Über die Universität Bern hatte das Team Zugang zu modernster Radiokarbon-Technologie, mit der das Alter von organischem Material wie Saatgut kostengünstig bestimmt werden konnte. Bis zu 10 000 Jahre alte Fundstücke können mit Hilfe dieser Ausrüstung datiert werden, wenn sie mit Samen aus der gleichen Zeit verglichen werden können.
Umso enttäuschender war die aktuelle Änderung des türkischen Gesetzes auf direkte Veranlassung des Präsidenten: Altes Saatgut darf nicht mehr zu Forschungszwecken ausser Land gebracht werden. Stattdessen muss das Schweizer Team nun für solche Analysen lokale Labore mit begrenzter Ausrüstung innerhalb der Stadtgrenzen in Anspruch nehmen, was zusätzlich an den finanziellen Mitteln zehrt.
Durch Steinbrüche zerstört
Nach der Mittagspause zieht sich das gesamte Team für eine Siesta bis 16 Uhr zurück. Später werden alle gemeinsam mit dem Keramikteam ihre Funde durchschauen, bis die Sonne untergeht. Archäologinnen werden ausserdem die an diesem Tag entdeckten Stücke zeichnen, dokumentieren und in Sammlungen einordnen.
Den Abend und die Nacht verbringen alle in einem bescheidenen Haus im Dorf Sirkeli, nur etwa hundert Meter vom Hügel entfernt. Inzwischen wird das Team von der Dorfgemeinschaft voll akzeptiert. Ein Bewohner erzählt, dass er sich als Kind vom Muwatalli-Relief und den umliegenden Felsen fernhalten musste. Ömer Bayers Familie bezeichnete das in dunkle Steine gemeisselte Relief als «schwarze Hexe». Er ist dankbar, dass die Archäologen allen in seinem Dorf den Hintergrund über das Felsrelief und den darauf abgebildeten hethitischen Herrscher erklärt haben.
Leider bekommen der Hügel und seine Umgebung von den türkischen Behörden nicht den Schutz, den sie verdienen. In unmittelbarer Nähe – etwa drei Kilometer entfernt – gab es aktive Steinbrüche. Einige Häuser in Bayers Dorf wurden durch die Druckwellen der Dynamitexplosionen zerstört. Die Co-Leiterin Deniz Yaşin Meier meint: «In den nahe gelegenen Steinbrüchen gibt es keine Aktivitäten mehr, aber wir wissen, dass viele Überreste historischer Zivilisationen bereits plattgemacht wurden. Auf unseren eigenen alten Satellitenbildern können wir sehen, dass es ein weites Plateau gab, gross genug für Häuser, Tempel und andere Gebäude, die nun zerstört sind. Das ist wirklich sehr schade.»
Das schweizerisch-türkische Team ist zwar den grössten Teil des Jahres Tausende von Kilometern von Sirkeli Höyük entfernt, setzt aber auch dort seine wertvolle Arbeit fort. So findet im Winter das «Café Fixe» statt, ein wöchentliches Treffen in der Mensa der Universität Bern, bei dem das Projekt zwischen den Ausgrabungen koordiniert wird.