Fokus: Hirnforschung am Limit
«Bei zehn Milliampere habe ich gelächelt»
Vor sechs Jahren hat sich Claudia Meier* wegen Depressionen Elektroden für die Tiefe Hirnstimulation implantieren lassen. Bei einem Treffen erzählt sie, wie es dazu kam und wie es ihr heute damit geht.
«Die Tiefe Hirnstimulation ist nur dann ein gewagter Schritt, wenn man nicht anschaut, was vorher war. Ich habe Depressionen, seit ich sechs Jahre alt bin, als Dreizehnjährige wurde ich wegen Magersucht hospitalisiert, als Erwachsene kam eine Alkoholerkrankung dazu. Ich war innerhalb von zehn Jahren in einem Dutzend Spitäler. Ich hatte zig Psychotherapien, ich habe getöpfert, ich habe sogar gestrickt, obwohl ich es hasse. Ich erhielt immer wieder neue Medikamente, die nicht anschlugen.
Irgendwann war alles ausgereizt, und ich ging in eine Klinik, wo ich insgesamt 63 Elektroschocks bekam. Normal sind 15. Was sollte ich sonst tun? Ich war austherapiert, immer noch chronisch depressiv und, noch schlimmer, chronisch suizidal – inklusive vier Selbstmordversuche.
Ich habe schliesslich mit dem Mut der völlig Desillusionierten im Internet recherchiert und bin auf die Tiefe Hirnstimulation gestossen. Ich weiss noch, wie der Neurologe beim ersten Treffen sagte, dass dafür eine schwere Erkrankung vorliegen müsse. Es sei aber schwierig, auch wegen der Krankenkasse. 250 000 Franken kostet so etwas ungefähr.
Meine grösste Angst vor der Operation war, dass jemand von den drei beteiligten Professoren doch noch abspringt. Zuerst bekam ich diesen stereotaktischen Rahmen um den Kopf. Den braucht es für die präzise Durchführung des Eingriffs. Er ist wirklich sehr schwer. Nach der siebenstündigen Operation bei vollem Bewusstsein sagte ich: ‹Mir ist alles egal, aber nehmt diesen Rahmen weg.› Im Gehirn selbst spürt man ja nichts. Aber es ist schon speziell, wenn sie einem da reinbohren. Man hört das eins zu eins.
Etwa nach der Hälfte des Eingriffes wollten sie schauen, was passiert, wenn Strom durch die Kabel gelassen wird. Die sind rauf und rauf und rauf. Und plötzlich, bei zehn Milliampere, habe ich gelächelt. Ich kann Ihnen nicht sagen, was das für ein Gefühl war! Nach so vielen Jahren, ein echtes Lächeln aus mir selbst heraus! Alle waren begeistert. Es war ein Hochgefühl im Operationssaal.
Nachher ging eine komische Zeit los. Geht es mir gut oder geht es mir schlecht? Und es kam zu einem Zwischenfall: Meine Neurologin war einige Zeit weg, und ich musste die Einstellungen bei ihrem Chef überprüfen lassen. Zwei Tage danach hatte ich einen massiven Einbruch. Es gebe halt Schwankungen, sagte er. Als meine Neurologin zurückkam, merkte sie, dass die Stimulation falsch eingestellt war.
Leider ging es mir nicht innerhalb weniger Tage wieder gut. Ich war verzweifelt und ging zu Exit. Als es um den Termin ging, hat sich bei mir etwas gewandelt. Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, hundertmal bewusst von Leuten Abschied zu nehmen. Von da an habe ich angefangen, kleine Schritte zu machen. Ich nahm mir eine eigene Wohnung, begann erneut mit Noradrenalin. Dieses Mal schlug es an.
Nun hatte ich das Gefühl: ‹Ich brauche wieder einen Hund.› Mit meiner Dackeldame hat sich sehr viel verändert. Ich würde nie sagen, dass es mir nur wegen der Tiefen Hirnstimulation besser geht. Vielleicht ebnet sie aber den Weg dafür, dass andere Sachen greifen können.
Das Aufladen der Batterie für die Stimulation, die vorne unterhalb meiner Schulter implantiert ist, dauert jeweils etwa 45 Minuten, das erledige ich am Morgen. Einmal hatte ich eine Diskushernie und musste in die Röhre. Dafür musste die Stimulation ausgeschaltet werden.
Schon nach wenigen Sekunden war ich in einem ganz komischen Zustand. Das Gegenteil von geerdet. Ich weiss nicht, wo ich das Gefühl hintun soll. Die Tiefe Hirnstimulation ist eine Installation für den Rest meines Lebens. Ich frage mich schon manchmal, ob es im Inselspital immer Leute haben wird, die mir damit helfen können.
Es gibt eine lustige Nebenwirkung bei mir. Wenn ich in Situationen gerate, die sehr emotional sind, schiessen mir gleich Tränen in die Augen, etwa kürzlich, als ich ein Kind in einem Rollstuhl beobachtete, dem ein Erwachsener über den Kopf streichelte. Das hatte ich früher nicht! Wie wenn ich hochschwanger wäre! Aber ich finde das schön. Überhaupt etwas zu spüren ist schön.»
* Name geändert und der Redaktion bekannt.