Fokus: Hirnforschung am Limit
Die grossen Fragen zum Bewusstsein
Wie entsteht aus physischen Prozessen im Gehirn unser subjektives Erleben? Ob sich das komplexeste Problem der Bewusstseinsforschung jemals lösen lässt, darüber scheiden sich die Geister.
1 – Was ist Bewusstsein?
Der Begriff entzieht sich bis heute einer eindeutigen Definition. Dem britischen Neurowissenschaftler Anil Seth, der sich seit mehr als zwei Jahrzehnten damit beschäftigt, bereitet das kein Kopfzerbrechen. In seinem Buch «Being You» definiert er Bewusstsein schlicht als «jede Form subjektiver Erfahrung».
Das möge zu leicht oder trivial klingen, räumt er ein, doch sei das nicht unbedingt schlecht. «Solange wir komplexe Phänomene nur unvollständig verstehen, engen zu präzise formulierte Definitionen eher ein oder führen sogar in die Irre.»
2 – Wo sitzt das Bewusstsein?
Aristoteles sprach dem Gehirn einst nicht mehr als die Funktion eines Kühlaggregates zu, dazu dienend, die Temperatur des mit Nahrung beladenen Blutes abzusenken und so dem Menschen zu Schlaf zu verhelfen. Das zumindest schreibt der emeritierte österreichische Philosophieprofessor Erhard Oeser in einem Buch zur Geschichte der Hirnforschung.
Die Seele des Menschen sass gemäss Aristoteles im Herzen – mit einer wichtigen Einschränkung: Von den drei Formen der Seele, die der antike Philosoph unterschied, seien nur deren zwei dort anzutreffen, die Anima vegetativa und die Anima sensitiva, die Seele der Körperfunktionen und jene der Wahrnehmung. Die Seele des Geistes dagegen, der eigentliche Ort unserer Ideen und Hort der Vernunft, habe ihren Platz nicht im Körper, also weder in Herz noch Hirn, und sei deswegen unsterblich.
Im 17. Jahrhundert stellte René Descartes als Erster eine konkrete These über das Zusammenspiel von Leib und Seele auf und verortete das Bewusstsein klar im Gehirn. Alles um ihn herum möge eine Illusion sein, ein Traum, Täuschungen eines Dämons. Jegliche Wahrnehmung lasse sich anzweifeln, aber eines bleibe doch am Ende: er, Descartes, der über all dies nachdenke. Der französische Philosoph fasste seine Überlegungen in jenem berühmten Satz zusammen, der bis heute in kreativsten Interpretationen vielfach zitiert wird: Ich denke, also bin ich.
Das denkende Selbst besteht laut Descartes ungleich dem physischen Körper nicht aus Materie, die sich mechanisch im Raum bewegt und ausbreitet, sondern aus einer fundamental anderen Substanz. Die britische Psychologin Susan Blackmore erklärt in ihrem umfassenden Einführungsband zum Bewusstsein: Interagieren würden gemäss Descartes die körperliche Materie, die Res extensa, und die denkende, ideelle, die Res cogitans, eben im Gehirn, genauer: in der Zirbeldrüse. Dieser Substanzdualismus, die Vorstellung also, dass unser Bewusstsein in keiner Weise aus physiologischen Vorgängen im Gehirn entsteht, findet inzwischen aber kaum mehr Anhängerinnen.
«Heute streitet niemand mehr die entscheidende Rolle des Gehirns für das Bewusstsein ab», schreibt denn auch Blackmore. Höchst uneinig seien sich die Forschenden nur darüber, wie diese Rolle denn genau aussehe. Eine der grossen Debatten verläuft laut Anil Seth, Co-Leiter des Center for Consciousness Science an der Universität Sussex, derzeit entlang der von Philosoph Ned Block geprägten Unterscheidung zweier Ausprägungen.
Als die eine Form gilt hier der Zustand, in dem es uns möglich ist, unser Verhalten zu steuern, die Aufmerksamkeit zu lenken oder Bericht zu erstatten, das sogenannte Zugriffsbewusstsein. Entscheidend sind dafür vor allem die vorderen Gehirnregionen. Die zweite Form gehe eher mit Aktivität in den hinteren Teilen des Gehirns einher, da hier die Wahrnehmung des Menschen im Fokus steht. Man spricht vom phänomenalen Bewussten.
3 – Was ist das schwierige Problem?
Vorweg: Natürlich sind auch die einfachen Probleme der Bewusstseinsforschung alles andere als leicht zu lösen. Als der australische Philosoph und Kognitionswissenschaftler David Chalmers in den 1990er-Jahren eine Unterteilung der Probleme des Bewusstseins vorschlug, wollte er lediglich verdeutlichen: Die einfachen dürften mit den gängigen wissenschaftlichen Methoden grundsätzlich zu lösen sein. Es geht bei ihnen etwa um die Rolle des Bewusstseins im Zusammenhang mit Schlaf und Wachsein, mit Aufmerksamkeit oder der Steuerung von Verhalten.
Das schwierige Problem hingegen ist eine ganz grosse Knacknuss: Wie wird aus den physischen Prozessen im Gehirn subjektives Erleben? Warum fühlt es sich anders an, jemanden zu vermissen als frischen Kaffee zu riechen oder Helene Fischer zu hören? Oder wie es der britische Philosoph Colin McGinn formulierte: «How can techni-colour phenomenology arise from soggy grey matter?» Frei übersetzt: Wie kann aus einem grauen Klumpen von Zellen Wahrnehmung in den prächtigsten Farben werden? Die Philosophie nennt diese ganz persönlichen, inneren Erfahrungen Qualia.
4 – Lässt sich das schwierige Problem je lösen?
Manche meinen, die Lösung aller Bewusstseinsfragen sei möglich, sie setze aber ein ganz neues Verständnis für das Wesen des Universums voraus und verlange nach noch unbekannten physikalischen Prinzipien, wie Blackmore schreibt. Andere wie der Mysterianer Colin McGinn meinen dagegen, es fehle dem Menschen schlicht an der notwendigen Form von Intelligenz, um das Wesen des Bewusstseins je ganz erfassen zu können – geradezu so, wie es einem Hund nie gelingen werde, eine Zeitung zu lesen oder Poesie zu würdigen.
Ähnlich pessimistisch gibt sich Psycholinguist und Kognitionswissenschaftler Steven Pinker. Er räumt laut Blackmore aber immerhin einem noch ungeborenen «Darwin oder Einstein des Bewusstseins» die Chance ein, uns eines Tages alle mit spektakulärer Erkenntnis zu über-raschen. Illusionisten wie der amerikanische Philosoph Daniel Dennett vertreten gar die Haltung: Das schwierige Bewusstseinsproblem gebe es gar nicht, das subjektive Erleben sei eine Einbildung. Die entscheidende Frage laute deshalb: Wie kommt es, dass wir der Illusion erliegen?
Pragmatischer gehen Forschende wie Anil Seth, die dem Physikalismus nahestehen, die ganz grosse Frage des Bewusstseins an: «Man darf auch einfach eine agnostische Haltung dazu einnehmen», sagt der Brite. Den Physikalismus beschreibt er als die Idee, dass alles im Universum physischer Natur sei und folglich auch das Bewusstsein auf einer solchen Grundlage beruhe und aus einer bestimmten Anordnung physischer Elemente heraus entstehe.
Seths Ansatz ist denn auch, mit umso mehr Vehemenz schlicht den einfachen Problemen auf den Grund zu gehen. «Natürlich kann ich nicht garantieren, dass das Erforschen der physischen Grundlagen ausreicht, um das Bewusstsein zu erklären», räumt er ein. «Doch es ist mit Sicherheit das Produktivste, das wir in der Zwischenzeit tun können.»
Möglicherweise löst sich auf diesem Weg ja eines Tages auch gleich das schwierige Problem – oder es verflüchtigt sich zumindest irgendwann die Aura des Mysteriösen, die es schon so lange umgibt. Seth vergleicht die Situation mit der Jagd der Philosophie nach dem geheimnisvollen «élan vital» noch bis ins 20. Jahrhundert.
Eine solche allumfassende Theorie des Lebens gebe es zwar bis heute nicht, schreibt er in seinem Buch. Doch hat das Verständnis zahlreicher Teilprozesse, die das Leben ausmachen, die Suche danach längst obsolet gemacht. «In der Wissenschaft voranzukommen heisst keineswegs, immer Antworten auf die Anfangsfragen zu finden», betont er. «Ein Zeichen des Fortschritts ist es auch, wenn die Fragen sich ändern.»
5 – Wie wird Bewusstsein heute erforscht?
Das subjektive Erleben als Tatsache zu akzeptieren, aber nicht zum direkten Forschungsziel zu erklären und sich stattdessen erst einmal an den einfachen Problemen abzuarbeiten, das ist derzeit der gängige Ansatz in der Bewusstseinsforschung, sagt Anil Seth. Diese ist zwar weiter ein interdisziplinäres Feld, die Neurowissenschaften haben die Philosophie aber als wichtigste Disziplin abgelöst.
Seit den Neunzigerjahren ist der Königsweg dabei die Suche nach den sogenannten neuronalen Korrelaten des Bewusstseins. Geprägt haben den Begriff der Physiker und Molekularbiologe Francis Crick und der Neurowissenschaftler Christof Koch als «die kleinstmögliche Menge von Mechanismen oder Ereignissen im Gehirn, die ausreichen für eine ganz bestimmte bewusste Empfindung; diese kann so elementar sein wie das Erleben der Farbe Rot, aber auch so komplex wie das sinnliche, mysteriöse und ursprüngliche Gefühl, das die auf einem Buchumschlag abgebildete Dschungelszene auslöst.»
Dass ausgerechnet ein Nobelpreisträger wie Crick, der in den Fünfzigerjahren die Struktur der DNA mitentschlüsselt hat, als einer der Ersten nach solchen Korrelaten zu suchen begann, trug laut Seth ganz entscheidend dazu bei, das Bewusstsein wieder als respektables Forschungsfeld zu etablieren. Zuvor war es über weite Strecken des 20. Jahrhunderts komplett aus der Gunst gefallen – damals, als die Psychologie sich ganz auf die Untersuchung von Verhalten zu beschränken begann, das von aussen beobachtet werden konnte.
Heute komme die Suche nach den neuronalen Korrelaten, die in den vergangenen Jahrzehnten mehr konkrete Ergebnisse hervorgebracht haben dürfte als irgendein anderer Forschungsansatz, aber langsam an ihre Grenzen. Das Hauptproblem dabei: «Korrelationen sind noch keine Erklärungen.»
Die vergangenen Jahre haben darum eine regelrechte Flut von Bewusstseinstheorien hervor-gebracht. Sie haben das Thema jedoch nicht überschaubarer gemacht: Häufig ist nicht klar, was für ein Verständnis von Bewusstsein den verschiedenen Theorien zugrunde liegt und was sie genau zu erklären versuchen. Manche lassen sich auch gar nicht überprüfen. Seth nennt etwa den Panpsychismus, der besagt, dass jeder Form von Materie ein gewisses Bewusstsein innewohnt. «Selbst wenn die Theorie stimmen würde, wie sollten wir das je nachweisen?» Solche Thesen sind für den britischen Forscher wenig fruchtbar, auch den Mysterianismus hält er für eine eher mutlose Angelegenheit.
Die eigentliche grosse Herausforderung der Bewusstseinsforschung ist für Seth denn auch: die verschiedenen Theorien präziser zu formulieren, um sie testen und miteinander vergleichen zu können. Und vielleicht heben sich ja dann irgendwann ein paar Erklärungsansätze vom Lärm um sie herum ab.