Fokus: Hirnforschung am Limit
Jedem sein Superhirn!
Man vergisst Namen, kann sich bei der Prüfung nicht konzentrieren oder denkt langsamer als alle anderen. Es gibt Tipps und Tricks, um die Leistung seines Gehirns zu verbessern. Wir prüfen, ob diese ihre Versprechen halten.
Gehirnjogging
Spielen muss anstrengend sein
Sudoku, Kreuzworträtsel, Memory, Puzzles – die kleinen Apps sollen nicht nur unterhaltsam sein, sondern generell die Denkfähigkeit verbessern. Das verspricht zumindest die Werbung. Stimmt aber leider nicht: Die Mini-Games üben immer nur eine ganz spezifische Fähigkeit ein, die sich nicht auf andere Aufgaben übertragen lässt. «Wer den grossen Zeh trainiert, bekommt deswegen auch keine Muskeln im Arm», sagt Daphné Bavelier, Professorin für Neurowissenschaften an der Universität Genf.
Das Problem: Die bei diesen Spielchen erlernten mentalen Techniken werden mit der Zeit automatisiert und erfordern nur noch wenig Leistung von Hirnregionen, die für das Lösen komplexer Probleme zuständig sind. «Für einen erfolgreichen Transfer braucht es eine Aktivität, die für den präfrontalen Kortex herausfordernd ist – und vor allem auch herausfordernd bleibt», so Bavelier.
Für einige Videogames − etwa den Ego-Shooter «Call of Duty» − ist das der Fall. Sie helfen, das Gehirn in den gewünschten Zustand zu versetzen. Diese Spiele fordern einen flexiblen Wechsel zwischen verschiedenen Zuständen der Aufmerksamkeit: verteilt, wenn man sich durch die Spielelandschaft bewegt; konzentriert, wenn man Feinde ins Visier nimmt. Dies trainiert die Kontrolle über die Aufmerksamkeit – eine ideale Voraussetzung dafür, neue Dinge schnell zu erlernen. Der Effekt kann monatelang anhalten, vor allem bei regelmässigen Booster-Spielesitzungen. Das ist eine gute Nachricht für passionierte Gamer – wenngleich, laut Bavelier, kurze Übungssitzungen verteilt über mehrere Wochen am besten funktionieren. Spiele-Marathons sind also nicht nötig.
Um aus den Mini-Games trotzdem das Beste rauszuholen, hat die Neurowissenschaftlerin einen Tipp: «Am besten Spielchen aussuchen, in denen man richtig schlecht ist und die man als anstrengend empfindet.» Möglicherweise halte dies das Gehirn dann so auf Trab, dass es sich positiv auf die allgemeinen kognitiven Fähigkeiten auswirkt. Ob das Spielen dann noch motivierend ist, ist eine andere Frage.
Achtsamkeitstraining
Fokussierung macht’s aus
«Achtsamkeitstraining ist eine spezielle Form der Meditation», sagt die Psychologin Patricia Cernadas Curotto von der Universität Genf. «Die Teilnehmenden lernen dabei, ihre Aufmerksamkeit bewusst auf den gegenwärtigen Moment zu richten, ohne ihre Wahrnehmungen zu bewerten.» Dies geschieht etwa durch Konzentration auf die eigene Atmung oder Sinneseindrücke. Aus eigener Erfahrung weiss sie: Einmal erlernt, kann die Technik jederzeit im Alltag abgerufen werden.
Es gibt fast nichts, bei dem Achtsamkeit nicht helfen soll: von generellem Wohlbefinden und Stressresilienz bis hin zu einer Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses und der Fähigkeit, komplexe Probleme zu lösen. Immer mehr Studien bestätigen, dass dies nicht nur hohle Versprechen der Kursanbieter sind. Es zeigt sich auch, dass die Übungen die Verbindungen in gewissen Hirnarealen verstärken.
Dabei steht auch nicht die Entspannung im Vordergrund. «Es geht nicht darum, sich auszuruhen, sondern sich aktiv zu fokussieren», sagt Nathalie Mella, ebenfalls Psychologin an der Uni Genf. Sie untersucht gerade, ob Achtsamkeitstraining für Kinder in der Schule etwas bringt.
Neurofeedback
Vorerst nur als Therapie sinnvoll
Können Sie auf Befehl Ihre Sehrinde aktivieren? Oder mehr Sauerstoff in Hirnareale schicken, die für das Gedächtnis zuständig sind? Klingt unmöglich, ist es aber nicht. Mithilfe von Neurofeedback lernen das die meisten Menschen in wenigen Stunden. Während des Trainings werden Hirnströme oder die Durchblutung mit Elektroenzephalo- grafie oder funktioneller Magnetresonanztomografie gemessen. Die Versuchsperson bekommt dann in Echtzeit eine Rückmeldung, wie aktiv die gewünschte Hirnregion ist – zum Beispiel durch einen wachsenden grünen Balken auf einem Bildschirm.
Obwohl hauptsächlich für die Therapie von Krankheiten wie Depressionen untersucht, funktioniert die Methode beispielsweise auch für die Verbesserung des Arbeitsgedächtnisses oder der visuellen Wahrnehmung. Dennoch: «Man sollte die Kirche im Dorf lassen, die Datenlage ist noch recht dünn», sagt der Kognitionswissenschaftler Frank Scharnowski von der Universität Wien, der an mehreren Schweizer Forschungsprojekten auf diesem Gebiet beteiligt ist. Unsicher ist beispielsweise, ob und wie lange die Fähigkeiten ohne ständiges Training erhalten bleiben. Und die aufwendige Technologie ergibt ausserhalb der Medizin wenig Sinn.
Dennoch sind schon einige Techfirmen auf den Zug aufgesprungen. Sie bieten Kopfaufsätze an, die auf vereinfachte Weise Hirnwellen oder Durchblutung messen – und über gekoppelte Apps ein Feedback geben. Ein Hersteller prognostiziert durch sein Produkt gar «eine Revolution der Hirngesundheit». Scharnowski schliesst positive Effekte nicht pauschal aus. «Aber wenn wir im Labor mit ausgefeilten Methoden noch nicht mit Sicherheit sagen können, ob es lang anhaltende Effekte gibt, wieso soll das dann mit einem kommerziellen Gerät gelingen? Ich persönlich bin zuversichtlich, dass diese Technologie irgendwann den Durchbruch schafft, aber momentan würde ich dafür mein Geld noch nicht ausgeben.»
Hirndoping
Pillen sind harmloser als ihr Ruf
Schönheitsoperationen sind heutzutage gang und gäbe. Warum also nicht auch das Gehirn aufpeppen mit verschreibungspflichtigen Pillen? Das ist für viele ethisch fragwürdig. Denn dies bringe diejenigen, die ehrlicherweise darauf verzichten, vielleicht ins Hintertreffen. Vor allem junge Erwachsene greifen zu pharmakologischen Substanzen, um ihre Leistungen in Schule, Studium oder Job zu verbessern. Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2013 haben in der Schweiz zu diesem Zweck schon rund vier Prozent der Studierenden mindestens einmal den Wirkstoff Methylphenidat ausprobiert, eine Amphetamin-ähnliche Substanz, welche im ADHS-Medikament Ritalin steckt. Oder Modafinil, das zur Behandlung von Narkolepsie entwickelt wurde. Beide Wirkstoffe beeinflussen vor allem den Haushalt der Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin im Gehirn und wirken stimulierend.
Die Frage ist nur, ob sich das Hirndoping überhaupt lohnt. «Die Wirksamkeit dieser Medikamente ist vergleichbar mit einer Tasse Espresso», sagt Matthias Liechti, stellvertretender Chefarzt für klinische Pharmakologie am Universitätsspital Basel. «Wer gut ausgeschlafen ist, kann seine Leistungen mit einem Stimulans kaum verbessern.» Der Wettbewerbsvorteil wäre minim. Diese Einschätzung teilt Annette Brühl, Chefärztin des Zentrums für Affektive, Stress- und Schlafstörungen an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel: «Wie Studien zeigen, helfen diese Mittel eigentlich nur beim Kompensieren von Defiziten durch Schlafmangel, zum Beispiel, wenn man die Nacht durchlernen möchte. Ein positiver Effekt auf andere kognitive Funktionen, etwa das Gedächtnis, ist nicht nachgewiesen.»
Gemäss Liechti sind Koffein, Methylphenidat und Modafinil als Stimulanzien alle eigentlich recht gut verträglich und sicher. «Koffein ist einfach gesellschaftlich etabliert, und wir haben viel Erfahrung damit.» Die anderen Substanzen hingegen seien Medikamente – wer sie nicht verschrieben bekommt, muss sie sich unter der Hand besorgen. Allerdings gibt es immer wieder Forderungen, die Rezeptpflicht aufzuheben. Dafür spricht, dass sowohl Ritalin als auch Modafinil kaum bekannte Nebenwirkungen haben. «Wir haben gute Daten von Erwachsenen, die wegen ADHS schon jahrzehntelang Ritalin nehmen, und ausser einer möglichen Erhöhung des Blutdrucks wurde bis jetzt nichts festgestellt», sagt Brühl. Allerdings hat Methylphenidat ein gewisses Abhängigkeitspotenzial. «Wenn die Tabletten geschnupft werden, wirken sie wie Kokain», so Liechti.
Auch aus ethischer Sicht müsse man sich die Konsequenzen einer Freigabe laut Brühl gut überlegen. Nicht, weil sich manche damit einen unlauteren Vorteil verschaffen – das gehe damit wahrscheinlich sowieso nicht. Aber beispielsweise wegen einer möglichen Aufweichung des Arbeitsschutzes: So könnten etwa Spediteurinnen ihre Fahrer dann dazu drängen, bei Müdigkeit einfach Pillen einzuwerfen, statt Pausen einzulegen.
Hirnstimulation
Noch nicht für den Selbstversuch
Man nehme eine 9-Volt-Batterie, Drähte, ein paar Elektronikbauteile, zwei mit Salzwasser befeuchtete Küchenschwämme: Fertig ist der Brain-Hack. Über die am Kopf befestigten Schwämme lässt sich damit ein schwacher Strom durch das Gehirn leiten. Zwei Milliampere – weniger, als ein LED-Lämpchen benötigt − etwa eine halbe Stunde pro Tag machen laut Erfahrungsberichten schlauer, leistungsfähiger und glücklicher. Für ein paar hundert Dollar gibt es solche Gadgets auch zu kaufen.
Keine gute Idee seien solche Do-it-yourself-Hirnstimulationen, findet die Neuropsychologin Anna-Katharine Brem, die an der Universität Bern und am King’s College London auf diesem Gebiet forscht. Nicht, weil die Methode grundsätzlich nicht funktioniere, sondern weil sie nicht für den Freizeitgebrauch ausgereift sei – zumindest noch nicht. Eine Stimulation mit Strom habe durchaus eine Wirkung auf das Gehirn, davon ist Brem aufgrund der wissenschaftlichen Beweislage überzeugt. Auch wenn noch nicht alle Faktoren bekannt sind, so kennt man den grundlegenden Mechanismus: Der Strom fliesst durch die Nervenzellen und regt diese leicht an, sodass sie bei einem Reiz eher feuern. «Man kann sich vorstellen, dass die Nervenverbindungen dadurch nach und nach von einem Trampelpfad zu einer Autobahn ausgebaut werden», so Brem.
Tatsächlich gibt es viele Studien, die über positive Effekte der sogenannten transkraniellen Gleichstromstimulation auf Arbeitsgedächtnis, Konzentration und andere kognitive Funktionen berichten. Im Labor verwenden die Forschenden nebst Strom auch kurze Pulse von Magnetfeldern, die ebenfalls einen Stromfluss im Gehirn erzeugen. Mit einer Magnetresonanztomografie können sie dabei prüfen, ob sie die gewünschte Region treffen.
Bei den Geräten für den Hausgebrauch konnte der Effekt jedoch noch nicht belegt werden – die Erfolgsgeschichten sind anekdotisch und ein gewisser Placebo-Effekt ist nicht auszuschliessen. Brem warnt davor, dass eine Stimulation ungewollt auch negative Effekte auslösen kann: «Man darf nicht vergessen, dass das Gehirn nicht aus einzelnen isolierten Teilen besteht. Wenn man eine Hirnregion stimuliert, beeinflusst man gleichzeitig auch das ganze damit verbundene Nervennetzwerk.» Nicht zu unterschätzen sei zudem die grösste Gefahr bei selbstgebastelten Apparaten: Trocknen die Schwamm-Elektroden aus, kann es schmerzhafte Verbrennungen auf der Kopfhaut geben.
Implantate
Die Cyborgs sind da
Vor einigen Jahren wurde Schwein Gertrude auf einen Schlag berühmt. Ein Operationsroboter hatte in ihrem Gehirn mehr als tausend hauchdünne Elektroden platziert. Mit einer Live-Vorführung des quietschlebendigen Tiers wollte Elon Musk beweisen, wie einfach und sicher die Implantation des Computerchips seiner Firma Neuralink ist. Die eingepflanzten Elektroden können sowohl Informationen über die Hirnaktivität auslesen als auch Nervenzellen stimulieren. Die Vision: Der Mensch ist dadurch drahtlos und dauerhaft mit einem Computer vernetzt − und kann diesen allein durch die Kraft seiner Gedanken steuern. In einer neueren Vorführung von Neuralink spielt ein Schimpanse mit Hirnimplantat berührungslos das einfache Videospiel Pong.
Für die einen ist dies der nächste Schritt in eine wirklich schöne, neue Welt: Laut Musk sind wir durch unsere Abhängigkeit vom Smartphone sowieso alle schon De-facto-Cyborgs – ein Hirnchip würde diese Beziehung nur noch inniger machen. Andere sehen eine vorschnelle massenhafte Anwendung mit hohen Risiken verbunden. Der Neurobiologe Tobias Ruff von der ETH Zürich hat grosse Bedenken bei Systemen, wo das Implantat autonom entscheidet, wie es das Gehirn stimuliert. «Wenn man die Impulse, die man von aussen bekommt, nicht wahrnimmt, öffnet das die Tür für eine unbewusste Manipulation.»
Für die nahe Zukunft macht sich Ruff keine Sorgen. «Das ist bis jetzt technisch und wissenschaftlich nichts Neues.» Die exakte Platzierung von Elektroden bringt seiner Ansicht nach nicht viel – eine Stimulation aktiviert trotzdem unspezifisch Tausende Nervenzellen rundherum. «Ausserdem wissen wir noch gar nicht genau, wie das Gehirn Informationen kodiert und wo es sie ablegt.» Eine komplette Verschmelzung von Mensch und Technik sei noch Fantasie. Für machbar hält Ruff Projekte, die an der Peripherie des Gehirns ansetzen: an den Sinnesorganen. Dort können Stimulationen bewusst wahrgenommen werden. Dank Cochlea-Implantaten im Innenohr nehmen gehörlose Menschen schon jetzt Töne wahr. Der komplett farbenblinde Brite Neil Harbisson überträgt mit einer im Schädel eingepflanzten Antenne visuelle Informationen über Vibrationen an sein Gehirn. Damit kann er Farben spüren, auch im infraroten und ultravioletten Bereich, der für Normalsterbliche unsichtbar ist. Er will nun weitere neue Sinne schaffen – etwa zur Wahrnehmung von Magnetfeldern oder der Erdrotation.
Illustrationen: Peter Bräm