GEWALTERFAHRUNGEN
Resilienz hat aber auch einen Preis
Es gibt verschiedene Wege, um mit belastenden Erfahrungen zurechtzukommen. Oft ist es jedoch ein zehrender Kraftakt, zu einem normalen Leben zu finden. Dem Wesen der Resilienz auf der Spur.
Wie finden wir nach traumatischen Erlebnissen zurück zur Normalität? Warum gelingt manchen Menschen trotz grosser Belastungen ein erfülltes Leben? Resilienz ist heute als Thema allgegenwärtig und wird in der Öffentlichkeit gerne unter hemdsärmeligen Lebensweisheiten wie «Was dich nicht umbringt, macht dich stärker» subsumiert.
Zwar können Resilienzforschende damit wenig anfangen, doch auch in der Wissenschaft herrscht bisher kein einheitliches Verständnis, was psychische Widerstandskraft denn ausmacht. «Wie viele andere psychologische Konstrukte entzieht sich die Resilienz einer handlichen Definition», sagt Wassilis Kassis, Professor für pädagogische Psychologie an der Pädagogischen Hochschule FHNW.
Seit mehr als zwanzig Jahren untersucht Kassis, der sich zu Beginn seiner Karriere vor allem mit den Ursachen von Gewalt befasste, warum es manche Heranwachsende trotz Misshandlungen in der Kindheit schaffen, ein unbelastetes, ja ein glückliches Leben zu führen. Er sagt: «Die Resilienz per se gibt es nicht.» Was als positive Entwicklung gelte, lasse sich immer nur mit Blick auf die vorangegangenen Umstände bestimmen.
Der habilitierte Erziehungswissenschaftler distanziert sich darum dezidiert vom eingangs erwähnten Spruch. «Ein solcher Satz mag vielleicht im Sport seine Gültigkeit haben.» Die Idee, dass etwa elterliche Gewalt jemanden fürs Leben festigen könnte, sei zynisch, wenn nicht menschenverachtend. «Es gibt weltweit keine Studie, die auch nur ansatzweise positive Effekte von Gewalteinsatz nachweisen könnte.» Es ist für ein Kind immer noch das Beste, gar nicht erst geschlagen oder getreten zu werden.
Gewaltrate ist erschreckend stabil
Misshandlungen in der Familie sind kein marginales Problem. Gemeinsam mit anderen Forschenden führt Kassis regelmässig und mit diversen Methoden Untersuchungen dazu durch – derzeit mit rund 2000 Jugendlichen in der Nordwestschweiz –, und stets kommt er zum selben Ergebnis: Ob arm, reich oder breite Mittelschicht, ob in Österreich, Griechenland, Slowenien – oder auch in der Schweiz: Jedes fünfte Kind erlebt massive physische Gewalt in der Familie.
«Es ist erschreckend, wie stabil die Zahlen sind.» Notabene gehe es nicht «nur» um Ohrfeigen. «Wir sprechen hier von Schlägen mit einem Stock oder Gürtel, von Boxhieben oder Tritten.» Trotzdem überrascht es Kassis nicht, dass sich hartnäckig die Vorstellung halte, Gewalt finde vorwiegend am Rand der Gesellschaft statt – in Familien mit Migrationshintergrund, geringer Schulbildung und tiefem Einkommen. «Es ist ein Thema, das wir lieber von uns weisen und anderen zuschreiben.»
Gewaltresilienz müssen also viele Menschen entwickeln. Lange wurde diese als Abwesenheit von Auffälligkeiten wie Aggressionen, Depressionen oder Angststörungen verstanden. Doch das Fehlen solcher Symptome bedeute noch nicht, dass es jemandem auch tatsächlich gut gehe, betont Kassis. Die Abwesenheit von Krieg sei nicht dasselbe wie Frieden. Trotzdem sei damit schon viel erreicht. «Es ist eine enorme Leistung, aus dem Teufelskreis der Gewalt auszubrechen.»
Resilienz gibt es nie umsonst. «Die ganze Energie, die ein Kind aufwendet, um nicht so zu werden wie die eigenen Eltern, fehlt ihm an anderen Orten», sagt Kassis. Es bleibe in einer solchen Situation kaum Kraft dafür, optimistisch in die eigene Zukunft zu blicken oder Ansprüche an das eigene Leben zu formulieren, die über ein bares Überleben und Funktionieren hinausgingen.
Schule ungemein wichtig
In einer aktuellen Studie mit Schweizer Mittelstufenkindern, die zu Hause elterlicher Gewalt ausgesetzt sind, untersuchten Kassis und sein Team deshalb nicht einzig psychische Störungsmerkmale wie aggressives Verhalten, Depression oder Dissoziation, sondern auch Indikatoren wie Selbstwirksamkeit, Selbstbestimmung oder Wohlbefinden. «Resilienz bedeutet auch, einen positiven Zugang zu sich selbst und der Umwelt zu finden.»
Jugendliche, die nicht nur ein symptomfreies, sondern ein gutes Leben führen, zeichne aus, dass sie in ihrem sozialen Umfeld sicher eingebettet seien. Sie haben gute Freunde, vor allem aber auch zuverlässige erwachsene Vertrauenspersonen, seien dies Verwandte oder Lehrkräfte. «Die Schule ist nach der Familie das wichtigste Bezugsfeld eines Kindes», sagt Kassis. Wenn dieses Heranwachsenden wohlwollend und verständnisvoll, aber auch fördernd und fordernd begegne, könne das viel bewirken. Und doch: So sehr es Sensibilisierung, Anerkennung und Anpassungsstrategien in der Schule brauche, das eigentliche Problem werde noch immer zu wenig angegangen, kritisiert der Erziehungswissenschaftler: die Tatsache, dass Gewalt in der Mitte unserer Gesellschaft stattfindet.
Gewalterfahrungen standen zu Beginn auch im Fokus der Forschung von Birgit Kleim, wie die Professorin für experimentelle Psychopathologie und Psychotherapie an der Universität Zürich erzählt. Sie beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wie etwa nach einem Raubüberfall die Entwicklung von posttraumatischen Belastungsstörungen oder Depressionen verhindert werden kann. Dazu müsste früher reagiert werden – bereits dann, wenn die Person auf einer Notfallstation oder bei der Polizei ist. «Viele Menschen suchen erst therapeutische Hilfe auf, wenn die Symptome bereits chronisch sind.»
Um diese Lücke zu schliessen, wandte sich auch Kleim jenen Menschen zu, die solche belastenden Erlebnisse besonders gut verarbeiteten. Ihre Erkenntnisse flossen auch in die Entwicklung einer App ein, mit der sich Resilienz mit gewöhnlichen Alltagsstressoren einüben lassen soll – mit dem Ziel, auch bei grösseren Belastungen auf diese Bewältigungsstrategien zurückgreifen zu können.
Die zentrale Idee dabei ist unter anderem das Reappraisal, wie die Forscherin erklärt. «Bei dieser kognitiven Strategie werden negative Situationen aus einem anderen Blickwinkel betrachtet und damit neu und anders interpretiert und bewertet. » Dieser Ansatz habe aber natürlich auch seine Grenzen. Gehe es um schwerwiegende und länger andauernde Belastungen wie die von Kassis untersuchte elterliche Gewalt, ist eine Psychotherapie die Methode der Wahl bei anhaltenden psychischen Symptomen.
Aus nochmals einer ganz anderen Richtung nähert sich Gregor Hasler von der Universität Freiburg dem Wesen der Resilienz. Der Psychiater, Psychotherapeut und Neurowissenschaftler stellt fest, dass Stresssymptome in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen hätten. Das sei nicht in erster Linie ein individualpsychologisches Problem, sondern ein gesamtgesellschaftliches. «Wir sind heute nicht mehr in eine Sinntotalität eingebunden, und es fehlt an sozialem Zusammenhalt.»
Viel schneller auf hundert
Wo früher vor allem die Religion ein übergeordnetes Narrativ geboten habe, das selbst Schicksalsschläge wie etwa den Verlust eines Kindes in einen grösseren Zusammenhang stellen konnte, klaffe nun eine Lücke. «Heute ist stets eine individuelle Bewältigung gefragt», sagt Hasler. Das sei jedoch wesentlich schwieriger. Resilienz hänge stark von der Fähigkeit ab, dem eigenen Leben Sinn zu verleihen. «Es gibt wohl kaum einen wichtigeren Faktor als Bedeutung.»
Forscher wie Hasler und Kassis untersuchen heute auch neurobiologische Prozesse im Gehirn, die der Resilienz zugrunde liegen könnten. Kassis etwa beschäftigt derzeit die Frage, wie sich Gewalterfahrungen als Stress im Körper ablagern. «Solche Jugendliche weisen oft dauerhaft erhöhte Cortisolspiegel auf.» Sie hätten also gar nicht dieselben Freiheitsgrade wie unbelastete Gleichaltrige, um angemessen auf herausfordernde Situationen zu reagieren. «Solche Kinder sind viel schneller auf hundert als andere», erklärt der Wissenschaftler.
Dies erfordere einen ganz neuen Blick auf ihr Verhalten und Erleben. «Wenn jemand fehlsichtig ist oder eingeschränkt hört, fordern wir ihn ja auch nicht einfach auf, sich etwas mehr anzustrengen.» Gleichzeitig sei gerade die Adoleszenz als Phase grosser neuronaler Plastizität ein idealer Zeitpunkt, um neue Weichen im Leben zu stellen, sagt Kassis. Denn: «Resilienz ist nicht einfach eine Persönlichkeitseigenschaft, sondern ein Zustand, der sich immer wieder verändern lässt.»