GRUNDBILDUNG
Senkrechtstart ins Berufsleben geprüft
Der Grossteil der Jugendlichen macht nach der Schule eine Lehre. Die berufliche Grundausbildung ist gemäss Forschenden auch ein Erfolgsmodell. Warum eigentlich?
«Die Berufsbildung konnte in den letzten 20 Jahren ihren Platz als beliebteste Ausbildung in der Schweiz halten», erklärt Jürg Schweri, Professor an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB) in Zollikofen. Laut dem Experten spielt sie weiterhin eine zentrale Rolle: Zwei Drittel der Jugendlichen erlernen nach Abschluss der obligatorischen Schule einen der über 200 Berufe mit EFZ (Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis) oder EBA (Eidgenössisches Berufsattest). Das ist europäischer Rekord, der Durchschnitt in den OECD-Ländern liegt bei lediglich zwölf Prozent. Warum der Erfolg der Berufslehre bei uns so nachhaltig ist, hat verschiedene Gründe.
Patentrezept gegen Arbeitslosigkeit
«Für die Wirtschaft besteht der grosse Vorteil der beruflichen Grundbildung darin, dass sie sich an den Bedürfnissen der Unternehmen orientiert», erklärt Schweri. «Die Abstimmung auf den Arbeitsmarkt ist die grösste Stärke unseres Bildungssystems», bestätigt Rami Mouad, Statistiker beim Amt für Bildungsforschung (SRED) des Kantons Genf. «Die Unternehmen sind an der Entwicklung der Ausbildungsgänge beteiligt. Deshalb decken sich diese weitgehend mit dem Bedarf der Unternehmen an beruflichen Qualifikationen.»
Der Statistiker ist überzeugt, dass die Lehre jungen Menschen nicht nur Qualifikationen vermittelt, sondern auch dazu beiträgt, dass der Übertritt in den Arbeitsmarkt gelingt. Dies bestätigt die Arbeitslosenquote der 15- bis 24-Jährigen bei uns, die deutlich tiefer ist als in anderen Ländern: 6,9 Prozent hierzulande gegenüber 13,6 Prozent im europäischen Durchschnitt.
Ist die Berufsbildung also eine Art Patentrezept für die berufliche Integration von Jugendlichen? Schweri bestätigt: «Die niedrige Arbeitslosenquote ist ein Gütesiegel für das System.» Diesen Parameter wird der Forscher auch in seiner nächsten Studie über die Rolle der Lehrbetriebe beim Übergang zur Tertiärbildung und in die Arbeitswelt verfolgen.
Laut Jean-Louis Berger, Erziehungswissenschaftler an der Universität Freiburg, sollten bei der Beurteilung des Schweizer Systems nicht nur wirtschaftliche Argumente beachtet werden. Er betont die psychologisch-pädagogische Dimension der beruflichen Grundbildung. «Für die qualitative Weiterentwicklung der Ausbildung ist es wichtig, zu verstehen, wie die Beteiligten, also Lernende, Lehrpersonen in der Berufsschule sowie Berufsbildnerinnen und Berufsbildner in den Betrieben, diese definieren und wahrnehmen.»
Deswegen hat der Forscher 2022 auch ein Instrument entwickelt, mit dem Lernende ihre Wahrnehmung der Qualität der Lehre zum Ausdruck bringen können. «Diese Informationen sollen dann von den Berufsbildnerinnen und Berufsbildnern genutzt werden können, um die Vermittlung theoretischer und praktischer Kompetenzen zu verbessern.»
Noch immer manchmal ausgenutzt
Im Rahmen dieser Studie hat Matilde Wenger, die aktuell an der Pädagogischen Hochschule in Lausanne tätig ist, ihre Dissertation über Spannungsfelder in der Ausbildung von Jugendlichen verfasst. Ihr Interesse galt dabei 15-jährigen Lernenden, die direkt nach der Schullaufbahn, die einen recht strikten, «teilweise infantilisierenden Rahmen» habe, in den Arbeitsmarkt eintreten. Ihre Arbeit zeige, dass Lernende immer noch zu häufig für Aufgaben ausgenutzt werden, für die ein Betrieb eigentlich keine Lernenden einstellen müsste.
Dies führe zu Frustration und manchmal zur Auflösung des Lehrvertrags. «In der Schule gilt: Je mehr sich Jugendliche wie Kinder behandelt fühlen, desto weniger engagiert sind sie. Am Arbeitsplatz fühlen sie sich weniger geschätzt, wenn sie mehr undankbare Aufgaben erledigen müssen.» Die Forscherin sieht eine mögliche Lösung darin, dass die Verantwortlichen für die Ausbildung die Existenz solcher Spannungen erkennen und thematisieren.
Insgesamt stösst das heutige System jedoch auf viel Anklang, und es kommt auch mit dem ständigen Wandel mit. Jürg Schweri spricht von einer «kontinuierlichen Anpassung», eben weil die Berufsbildung eng mit dem Arbeitsmarkt verknüpft ist. «Wenn dieser eine fundamentale Veränderung durchmacht, müssen zuerst die Ausbildungen angepasst werden.» Zu diesem Zweck werden alle Ausbildungsgänge im Abstand von fünf Jahren überprüft und gegebenenfalls revidiert, wie Lorenzo Bonoli, Forscher an der EHB, weiss.
Rami Mouad nennt ein konkretes Beispiel: «Mit der Einführung des Eidgenössischen Berufsattests wurde die Berufsbildung auch für Jugendliche in schwierigen Situationen zugänglich.» In der Fachliteratur würden diese Atteste deshalb manchmal als integrative Berufsbildung bezeichnet, weil sie auch Jugendlichen aus sonderpädagogischen Schulungsformen eine Lehre ermöglichen.
Personen mit EFZ haben die Möglichkeit, anschliessend an die Lehre an höheren Fachschulen zu studieren, mit Matur an Fachhochschulen, «was einerseits dem Bedürfnis nach einer kreativeren beruflichen Erstausbildung nachkommt und andererseits gewährleistet, dass mehr junge Menschen Qualifikationen auf Tertiärniveau erwerben», betont Lorenzo Bonoli. Die Durchlässigkeit zwischen der beruflichen Grundausbildung und der Tertiärstufe hat sich seit den 1990er-Jahren stetig verbessert.
Die verschiedenen Bildungswege sind inzwischen gut miteinander verbunden. Nach einem EBA kann ein EFZ erworben werden. Die Berufsmaturität, die gleichzeitig mit dem EFZ oder danach absolviert werden kann, führt hin zu Ausbildungen auf Tertiärstufe, im Rahmen von Fachhochschulen, aber auch über die sogenannten Passerellen zu den universitären Hochschulen. «Zwischen 1999 und 2019 ist der Anteil der Erwerbstätigen mit einer beruflichen Grundbildung als höchstem Abschluss von 52 Prozent auf 36 Prozent zurückgegangen. Das zeigt, dass diese Ausbildung immer häufiger eher ein Sprungbrett als ein Abschluss ist», präzisiert Jürg Schweri.
«Wir haben ein sehr gutes System, aber das heisst nicht, dass wir es nicht noch besser machen können», ist sein Fazit. Die Mobilität zwischen Stellen, Sektoren und Berufen sowie die Durchlässigkeit des Bildungssystems dürften auch in Zukunft darüber entscheiden, ob die Erwerbstätigen auf Veränderungen wie technologische Innovationen reagieren können. Schweri betont deswegen, dass weitere Anstrengungen unternommen werden müssen, damit Jugendliche, die eine Lehrstelle suchen, optimale Unterstützung erhalten: «Sie müssen von Anfang an die Ausbildung wählen, die am besten zu ihnen passt, denn eine ungünstige Berufswahl wirkt sich auch negativ auf den Arbeitsmarkt aus.» Optimierungsbedarf bestehe auch beim Zugang zu Ausbildungen je nach Geschlecht oder Migrationshintergrund.