TEILCHENPHYSIK
Von der Leere nach dem Higgs
Sollten die neuesten Experimente keine Überraschungen bringen, droht der Stillstand der Teilchenphysik. Ein Stimmungsbericht aus einer Disziplin unter Druck.
Am 4. Juli 2012 herrschte Am 4. Juli 2012 herrschte wohl die grösstmögliche Euphorie unter den 6000 Forschenden am Large Hadron Collider (LHC) des Forschungszentrums Cern. Damals war das sogenannte Higgs-Boson nachgewiesen worden. Es war die Bestätigung einer 45 Jahre alten Vorhersage, das letzte Puzzle-Stück einer Theorie, die als Standardmodell bezeichnet wird (siehe Kasten rechts). Doch seitdem ist nicht mehr viel passiert.
Zwar sind in den vergangenen Jahren eine Vielzahl exotischer Partikel von einer Heerschar theoretischer Physikerinnen und Physiker prognostiziert worden, aber die Hoffnung, diese auch nachzuweisen, hat sich nicht erfüllt. «Nichts davon ist eingetreten», fasst die Physikerin Sabine Hossenfelder vom Zentrum für Mathematische Philosophie der LMU München die Situation provokativ zusammen. «Es scheint, als ob da auf einer grundlegenden Ebene etwas schiefgelaufen ist. So verlieren wir ganze Generationen von Physikern.»
Die Forschenden am LHC stehen unter Druck, im aktuellen Messzyklus endlich Hinweise auf eine neue Physik zu finden. Nach drei Jahren Pause krachen in der 27 Kilometer langen Röhre wieder Protonen aufeinander, um andere Teilchen zu erzeugen und deren Zerfall zu beobachten. Am besten solche, die man nicht schon kennt. Mit besserer Fokussierung des Teilchenstrahls und dem neuen Energierekord von 13,6 Teraelektronenvolt soll endlich die Zeit der Enttäuschungen zu Ende gehen. «Wenn sie jetzt nichts finden, ist dieses Forschungsfeld tot», sagte im Juni 2022 der Teilchenphysiker Juan Collar von der University of Chicago im Fachmagazin Science.
Die Krise hängt auch mit dem erstaunlichen Erfolg des Standardmodells der Teilchenphysik (Siehe Kasten) zusammen. Doch die Forschenden wissen seit langem, dass es sich dabei nicht um die allumfassende Theorie der Natur handeln kann. Denn sie beschreibt weder die Schwerkraft noch die geheimnisvolle Dunkle Materie, die rund 80 Prozent der Materie des Universums ausmachen muss und von der bis heute ein Rätsel ist, woraus sie besteht.
Dramatische oder übliche Stagnation?
«Über das Problem, dass fundamentale Theorien der Physik nicht zusammenpassen, haben schon Einstein und der Schweizer Physiker Fritz Zwicky vor hundert Jahren nachgedacht », sagt Hossenfelder, Autorin des Buches «Das hässliche Universum». Sie vermisst in der Disziplin die grundsätzlich neuen Ideen. «Gute Theorien beruhen darauf, dass sie einen Widerspruch in existierenden Theorien auflösen », sagt sie. Ansätze wie die Stringtheorie, die einst als Kandidat für eine vereinheitlichte Theorie galt, seien zwar prinzipiell interessant. «Aber man muss sie immer noch experimentell testen, und dazu sind Teilchenbeschleuniger nicht geeignet.» Hossenfelder setzt darauf, Theorien in kleinen Labors zu testen.
Viele Teilchenphysiker wie etwa Nicola Serra, Professor an der Universität Zürich und Forscher am Cern, sehen die vermeintliche Stagnation der Teilchenphysik weniger dramatisch. «Wir haben ein hohes Niveau in unserem Verständnis erreicht. Da ist jeder weitere Schritt schwer», sagt Serra. «Ich halte das wechselhafte Vorankommen in solch komplexen Forschungsfeldern für ganz normal, wir sind bei sehr tiefgreifenden Fragen angelangt, die es noch zu klären gibt.»
So haben zum Beispiel Neutrinos eine Masse, werden im Standardmodell aber als masselos gehandelt. Würde man sogenannte rechtshändige Neutrinos finden, könnte dieser Widerspruch aufgelöst werden, man könnte erklären, warum es im Universum so viel mehr Materie als Antimaterie gibt, und sie werden auch als Kandidaten für die Dunkle Materie gehandelt. «Trotz seiner bedeutenden Erfolge benötigt das Standardmodell zumindest eine minimale Erweiterung», sagt Serra.
Eine andere Möglichkeit, offene Fragen zu beantworten, ist die sogenannte Supersymmetrie – eine mathematische Erweiterung, die jedem bekannten Standardmodellteilchen einen schwereren Partner zuweist. Gefunden wurde keines dieser Teilchen. «Stattdessen wurden die Theorien immer komplizierter», sagt Sabine Hossenfelder. «Und nur weil diese mathematischen Erweiterungen neue Teilchen vorhersagen, ist das nicht wissenschaftlich. So produziert man nur unendlich viele aus meiner Sicht wertlose Paper.»
Sensation, Korrektur, Sensation...
Auch ohne neue Teilchen tauchen doch immer wieder kleine Diskrepanzen zwischen den Messungen und den Vorhersagen des Standardmodells auf. Genau solchen Anomalien ist Nicola Serra auf der Spur. Flavour-Puzzle nennt sich das Phänomen, mit dem er sich mit seinen Kollegen am Cern beschäftigt.
Es geht dabei um die Frage, warum die Mitglieder der Materie-Teilchen-Familien ein so eigenartiges Muster in ihren Massen haben, warum beispielsweise das leichte Elektron zwei schwerere Partner Myon und Tau hat. «Flavour- Anomalien müssen experimentell und theoretisch bestätigt werden, dann könnten sie ein Baustein zur Lösung dieses Rätsels sein», sagt Serra.
Allerdings sind inzwischen aufgrund einer statistischen Korrektur die tatsächlich beobachteten Anomalien kleiner geworden, und mit ihnen die Euphorie. Es ist ein wiederkehrendes Muster in der Teilchenphysik: Sensationsmeldungen werden nach ausführlicher Prüfung oft wieder zurückgenommen. So passierte es auch mit den Neutrinos, die 2011 angeblich mit Überlichtgeschwindigkeit vom Cern ins Gran-Sasso-Massiv geflogen waren. Dahinter steckten ein defektes Kabel und eine falsche Statistik, wie sich 2012 herausstellte.
So könnte es auch mit W-Bosonen geschehen, die am Fermilab nahe Chicago schwerer waren als vorhergesagt: 2022 sprachen viele von einer neuen Physik. Noch laufen die Auswertungen. «Ich glaube nicht, dass hier etwas entdeckt wurde», winkt Hossenfelder ab. Serra findet dieses mühselige Spiel zwischen möglicher Neuentdeckung und anschliessender Korrektur normal. Er selbst will seine Suche nach den Flavour-Anomalien noch nicht aufgeben. «Wir können am LHC mithilfe der neuen Messdaten noch viel lernen.»
Und noch viel, viel mehr Daten
«So akribisch vorzugehen, ist eine gute Sache. Aber dass dabei eine neue Physik herauskommen wird, halte ich für unwahrscheinlich», sagt Hossenfelder. «Und diese Forschung braucht sehr viel Geld. Das muss man auch bei der Forderung nach leistungsstärkeren Beschleunigern bedenken.» Sie sagt das auch im Hinblick auf Pläne, am Cern den Future Circular Collider, einen 100 Kilometer langen, 20 Milliarden Euro teuren Ringbeschleuniger bauen zu wollen.
Hossenfelder ist Big-Science- Projekten gegenüber durchaus aufgeschlossen. Das James-Webb-Space-Teleskop sei ein Beispiel, «wo wir was fürs Geld bekommen, etwa dank all der Daten von jungen Galaxien, die uns helfen, Dunkle Materie besser zu verstehen ». Aber man könne auch in der Quantenoptik oder im Quantencomputing die Grundlagen der Physik testen.
Immer mehr Forschende in der Teilchenphysik setzen inzwischen auf die Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz, um ungewöhnliche Muster von Kollisionsdaten zu suchen. Der Physiker Steven Schramm von der Universität Genf etwa hofft, ein neues Teilchen zu finden, das im Rauschen der LHC-Kollisionen mit niedriger Energie verborgen ist (siehe auch Horizonte 137, «Einmal Algorithmus drüber, und schon gelingt’s»). Auch Nicola Serra setzt auf die Technologie. «Die KI könnte eine Art Beifahrer für die Teilchenphysiker werden und Dinge sehen, die wir Menschen nicht erkennen können.»
Am LHC sollen in den kommenden 16 Jahren 16 Mal so viele Daten gesammelt werden wie bisher. Wird das die Erstarrung der Teilchenphysik lösen? Serra: «Sollen wir auf das Potenzial des LHC setzen, der umfassende Messungen durchführt, um maximal belastbare Informationen zu erhalten, und gleichzeitig neue Theorien entwickeln oder sollten wir lieber warten, dass plötzlich ein neuer Einstein erscheint?»