MEHRZELLER
Als Tiere noch wie Farne aussahen
Im Uralgebirge liegen die vielleicht ältesten Spuren von komplexen, mehrzelligen Tieren. Die Überreste aus dem Zeitalter des Ediacariums bringen bisherige Hypothesen ins Wanken.
Lange begnügte sich die Evolution mit einzelligem Leben: Während dreieinhalb Milliarden Jahren besiedelten ausschliesslich Mikroorganismen wie Algen und Bakterien den Planeten. Dann entstanden innerhalb nur weniger Millionen Jahre – erdgeschichtlich betrachtet ein Wimpernschlag – die ersten mehrzelligen Tiere.
Sie lebten im Wasser und waren weich, ohne Skelett. Ihre Formen erinnern an Quallen, Schläuche, Blätter, Federn oder Farne. Obwohl sie weitgehend ohne erkennbare Verwandtschaft zu heutigen Arten wieder verschwanden, sind sie aus evolutionsbiologischer Sicht von grösstem Interesse, wie Geologe Fred Bowyer von der Universität Edinburgh sagt: «Wenn es uns gelingt, die kausalen Zusammenhänge zwischen der Entstehung dieser ersten Fauna auf Erden und den Umweltveränderungen zu jener Zeit zu klären, dann lösen wir vielleicht eines der grössten Rätsel überhaupt: Wie entsteht komplexes Leben?»
Jene geheimnisvolle Zeit wurde erst 2004 offiziell als erdgeschichtliche Periode definiert: das Ediacarium. Sie beginnt vor 635 Millionen Jahren, dauert ungefähr 100 Millionen Jahre und endet mit dem bekannteren Kambrium, in dem die modernen Tierstämme bereits vorhanden waren. «Zwar wiesen Fossilienfunde in Sedimentgestein schon lange auf präkambrische mehrzellige Tiere hin», so Bowyer, «doch konnte man sie bisher kaum im Zeitverlauf der Erdgeschichte verorten oder zuverlässig den Tierstammbäumen zuteilen.»
Auch die Datierung der Ediacarium-Fauna war bisher nur ungenau. Ein Grund dafür: Die meisten Organismen besassen damals keine harten Teile, sodass ihre Abdrücke und sonstigen Spuren nur unter aussergewöhnlichen Umständen konserviert wurden. Und erst mit neueren Methoden können Forschende aus so alten Sedimentschichten auf die chemische Zusammensetzung des Wassers und der Luft von damals schliessen. «Doch mittlerweile haben wir eine sehr viel bessere Vorstellung von den geologischen Prozessen, die während des Ediacariums abliefen», so Bowyer. Unmittelbar vor dem Ediacarium erlebte der Planet mehrere Zyklen mit globalen Eiszeiten, in denen er fast vollständig von Eis und Schnee bedeckt war, einer weniger ausgeprägten Eiszeit, und dann stieg die Sauerstoffkonzentration in der Atmosphäre an.
Während all dieser heftigen Veränderungen an der Oberfläche hätten nur in den Tiefen der Ozeane konstante Umweltbedingungen geherrscht, und da habe sich mehrzelliges Leben entwickelt, lautete die gängigste Hypothese. Dazu passt, dass die bisher ältesten Spuren mehrzelliger Tiere in Sedimenten von Tiefseeablagerungen gefunden wurden, im kanadischen Neufundland.
Urandatierungen stellen Tiefsee-Hypothese in Frage
Doch neue, noch unveröffentlichte Erkenntnisse der Geochronologin Maria Ovtcharova und ihrer Forschungsgruppe an der Universität Genf stellen diese Hypothese nun in Frage. Die Forschenden haben eine Reihe von Funden mit Spuren mehrzelliger Tiere aus dem russischen Uralgebirge datiert. Genauer gesagt bestimmten sie das Alter von Ascheschichten aus Vulkanausbrüchen, zwischen denen Gestein, Fossilien und organisches Material liegt.
Für die Datierung betrachten sie den Zerfall des chemischen Elements Uran, das an kleinste Kristalle des Minerals Zirkon gebunden ist. Die Forschenden messen dafür die Zusammensetzung der Uran-Isotope sehr präzise und können so bestimmen, zu welchem Zeitpunkt sich die Kristalle gebildet haben und folglich wann die Asche aus dem Vulkan gespien wurde. Auf diese Weise konnte Ovtcharova die analysierten Funde aus dem Ural auf dasselbe Alter festlegen wie die bisher ältesten Hinweise auf komplexes Leben aus Neufundland. «Das hat uns überrascht», sagt sie, «weil von Beginn weg klar war, dass unsere Proben aus einer ursprünglich küstennahen Umgebung in flachen Gewässern stammen. Bisher ging man davon aus, dass sich da erst Millionen Jahre später solche Lebensformen entwickelt haben.»
Die Forschenden aus Genf konnten zudem aufzeigen, dass die untersuchten Spuren von sehr ähnlichen oder sogar denselben Arten stammen wie jene aus Neufundland. Sie vermuten deshalb, dass mehrzelliges Leben entweder parallel in beiden Umgebungen entstanden ist oder sogar zuerst nur in flachen Gewässern. «Das wiederspricht natürlich der Tiefsee-Hypothese», so Ovtcharova, «und legt eher nahe, dass der höhere Sauerstoffgehalt sowie das vorhandene Sonnenlicht in flachen Gewässern für die Entwicklung der ersten komplexen Lebensformen notwendig waren.»
Doch Ovtcharovas jüngste Arbeiten seien über diese ersten Interpretationen hinaus von grosser Bedeutung für das ganze Feld, so Fred Bowyer. «Bisher waren einzig die Proben und Fossilien aus Neufundland ausreichend gut untersucht, um Rückschlüsse auf verschiedene Faktoren wie die Zusammensetzung der Fossiliengemeinschaft oder Veränderungen des Sauerstoffgehalts in der Tiefsee zu ziehen», sagt der Geologe. «Jetzt haben wir erstmals eine vergleichbare Fossiliengruppe desselben Alters, aber aus einer völlig anderen Ablagerungsumgebung in flacherem Wasser. Das gibt uns viel mehr Daten in die Hand, mit denen wir Hypothesen bilden und testen können.»
Globales Archiv aus dem Meeresboden
Welche Hypothese zutrifft, könnte sich in den nächsten Jahren zeigen. Das Ediacarium und seine Fauna rückt dank immer präziser werdenden Methoden zunehmend in den Fokus von Forschenden aus unterschiedlichsten Disziplinen. So ist seit kurzem das internationale Projekt namens Geological Research through Integrated Neoproterozoic Drilling (Grind) angelaufen. In diesem werden mit Tiefenbohrungen in Sedimentschichten von Hunderten Metern Tiefe weltweit neue Proben in bisher unerreichter Qualität gewonnen. Das Ziel: ein Archiv von Bohrkernen aufbauen, das die Zeit von vor rund einer Milliarde Jahren bis zum Ende des Ediacariums abdeckt.
Die Geochemikerin Simone Kasemann von der Universität Bremen, Mitglied von Grind, sagt: «Bisher verfügen wir eher über einzelne Schnappschüsse aus wenigen Erdteilen.» In einer ersten Phase bohren die Forschenden in Namibia, Brasilien und China in Schichten des Ediacariums. «Diese Schichten enthalten eine reiche Fauna», sagt Kasemann. «Und die Ablagerungen verraten jeweils viel über Umweltbedingungen, die früher an den jeweiligen Orten herrschten.»
Interessierte Forschende aus der ganzen Welt erhalten Zugang zu den Bohrkernen, um diese nach unterschiedlichsten Gesichtspunkten zu untersuchen. Doch zuerst soll das Grind-Projekt eine qualitativ hochstehende, einheitliche Ausgangslage schaffen, bei der die Kerne nach genau definierten Kriterien erfasst und beschrieben werden. Das sei besonders hinsichtlich der Datierung wichtig, sagt Maria Ovtcharova, die im Rahmen eines anderen Forschungsprojekts bereits Grind- Proben erhalten hat. «Sehen wir zuerst einen Anstieg des Sauerstoffs und darauf folgen erste mehrzellige Tiere oder ist es umgekehrt? Das ist entscheidend. Nur eine korrekte und präzise Datierung enthüllt die richtige Geschichte komplexen Lebens.»