AKADEMISCHE LAUFBAHN
Wo gehen die Studierenden hin?
Je weiter oben auf den Karriereleitern der Hochschulen, desto dünner wird die Luft – und desto unfreiwilliger springen die Leute ab. Grafische Übersicht, mit Analyse von drei Problemzonen.
«Wenn Sie ein Ausserirdischer wären und die Bildungssysteme betrachten würden, müssten Sie zum Schluss kommen, das Ziel der öffentlichen Bildung weltweit ist, Universitätsprofessorinnen zu produzieren», sagte Ken Robinson 2006 im meist geschauten TED-Talk überhaupt. Er war davor selbst einmal Professor für kulturelle Bildung an der Universität Warwick. Für die Hochschulbildung gilt seine Beobachtung noch viel mehr. Das ganze System ist auf die Spitze ausgerichtet. Dies, obwohl der allergrösste Teil derjenigen, die ein Studium, ein Doktorat oder selbst eine Postdoc-Phase beginnen, auf Dauer nicht an der Hochschule bleibt. Viele werden die Tage in den Vorlesungen, Seminaren und Labors in guter Erinnerung behalten und stolz auf das Erreichte sein. Sie gehören zu einer privilegierten Bevölkerungsgruppe. Trotzdem führt die Diskrepanz zwischen der Ausrichtung der Hochschulbildung und den tatsächlichen Aufgaben, die diese Leute später innehaben, zu grosser Frustration.
Geisteswissenschaftler sind fit für den Arbeitsmarkt
Der Vorwurf: Immer wieder flammt die Debatte über den Nutzen der Geisteswissenschaften auf. Patrick Schellenbauer, Chefökonom des Thinktanks Avenir Suisse, schrieb zum Beispiel 2017 in der NZZ, dass es in den betreffenden Fächern zu viele Studierende gäbe. Das Problem sei nicht die Arbeitslosigkeit, sondern das schlechte Verhältnis der Kosten der Ausbildung zu den späteren Löhnen. 2021 doppelte Andrea Franc, Geschichtsdozentin an den Universitäten Basel und Luzern, im «Schweizer Monat» nach: Philosophen oder Kunsthistorikerinnen verdienten nach dem Abschluss weniger als Pflegehelferinnen, Polymechaniker oder Zürcher Tramchauffeure, wenn man Teilzeitarbeit mitberücksichtigt. Jan Blanc, Professor für Geschichte und ehemaliger Dekan der Universität Genf, hingegen stellt sich vehement hinter die Studiengänge: Die Fähigkeit, sich klar, überzeugend, kritisch und in kurzer Zeit zu komplexen Fragen auszudrücken, sei eine «Kompetenz, die Arbeitgeber schätzen und deren Erwerb Zeit braucht.»
Zur Arbeitslosigkeit: Wer auf dem Arbeitsmarkt gut ankommen möchte, sollte an einer pädagogischen Hochschule (PH) studieren. Nur 0,4 Prozent der Absolventen aus dem Jahr 2020 hatten ein Jahr nach dem Studium gemäss Bundesamt für Statistik keine Anstellung. Ebenfalls sehr begehrt sind Absolventinnen der Gesundheitsdisziplinen an der Fachhochschule (FH) oder Mediziner und Pharmazeutinnen von den universitären Hochschulen (UH). Mit einer Arbeitslosenquote von 4,4 Prozent bilden Masterabsolventen der Geistes- und Sozialwissenschaften an einer UH tatsächlich das Schlusslicht.
Auf der Stufe Doktorat sind es mit 4,7 Prozent allerdings die exakten Wissenschaften und Naturwissenschaften und auf Stufe Bachelor die Wirtschaftswissenschaften mit 7,7 Prozent. Diese werden wie Recht nicht zu den Geistes- und Sozialwissenschaften gezählt. Bei der Angst davor, erwerbslos zu werden, gibt es kaum Unterschiede zwischen den Disziplinen. Die Ausnahme sind die Absolventinnen von Fächern, die zur Gruppe der Dienstleistungen gehören, nämlich 9 Prozent mehr als die Leute in der Referenzkategorie Wirtschaft, Verwaltung und Recht. Bei den Geisteswissenschaften und Künsten sind es nicht einmal 4 Prozent mehr.
Zum Lohn: Wer viel verdienen will, sollte Rechtswissenschaftlerin werden. Den höchsten mittleren Jahreslohn (Median) mit 110 000 Franken jährlich im Jahr 2020 hatten diese ein Jahr nach ihrem Doktorat. Mit nur einem Master rutschten sie jedoch auf den letzten Platz unter den UH-Abschlüssen: 62 000 Franken. Die Geisteswissenschaften liegen mit 69 000 Franken mit Bachelor, 78 000 mit Master und 90 000 mit Doktorat hinter Wirtschaft, Recht und Medizin, aber vor den exakten Wissenschaften und etwa gleichauf mit den technischen Wissenschaften. Das Bundesamt für Statistik misst auch, ob die Studienabgehenden überqualifiziert sind (Inadäquanz zwischen Ausbildung und Erwerbstätigkeit). Dabei gibt es bei den Geisteswissenschaften und Künsten von FH und UH tatsächlich am wenigsten Adäquanz, beim Ingenieurwesen, verarbeitenden Gewerbe und Baugewerbe am meisten.
Zu viele Postdocs, zu wenige feste Stellen
Ausgangslage: Da es an Hochschulen die entsprechende Personalkategorie nicht gibt, definiert das Bundesamt für Statistik die Postdocs wie folgt: Sie haben ihr Doktorat in den letzten fünf Jahren erworben, sind befristet angestellt, entweder als wissenschaftliche Mitarbeitende oder durch ein entsprechendes SNF-Instrument gefördert. Sie stemmen einen grossen Teil der Arbeit in Forschung und Lehre.
Problem: Postdoc-Bubble, #IchBinHannah, Prekariat im Mittelbau – das Etikett des Problems variiert je nach Kontext: Über 90 Prozent der Assistierenden und wissenschaftlichen Mitarbeitenden an Hochschulen haben einen befristeten Arbeitsvertrag. Gerade für Postdocs, die im besten Alter sind, eine Familie zu gründen, ist es besonders gravierend, keine Planungssicherheit zu haben – das Ganze in einem hierarchischen Arbeitsumfeld mit praktisch unkündbaren Professuren an der Spitze, die gleichzeitig Vorgesetzte sind und über die Qualität der Forschung urteilen. Alle stehen unter enormem Konkurrenzdruck. «Es ist nicht normal, dass ein System so viel Leid und Verzweiflung generieren kann», sagt Bernard Voutat, Politologe an der Universität Lausanne und selbst Professor. Die vielen personellen Wechsel beeinflussten auch die Qualität der Arbeit, so Voutat. Viele sagen, die besten Studierenden wollen keine Dissertation mehr machen.
Viele Institutionen verfassten Berichte zur Postdoc-Frage: die OECD, der Schweizerische Wissenschaftsrat, die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW), der Schweizerische Nationalfonds sowie verschiedene Universitäten. Im November 2021 hat eine breite Koalition von Mittelbauvereinigungen eine Petition im Parlament eingereicht, die zu Vorstössen geführt hat.
Mögliche Lösungen: Für Carthage Smith, der am OECD-Bericht beteiligt war, gibt es zwei Möglichkeiten: «Entweder gibt es viel mehr Positionen an der Spitze der Pyramide, oder wir müssen uns mehr um die alternativen Karrieren derer am Fuss kümmern.» Da das System nicht mehr kosten darf, brauche es innerhalb der Hochschulen alternative Karrieren mit festen Stellen. Der SAGW-Bericht schlägt ein Modell vor, wo neben Professuren auch ein oberer Mittelbau und ein oberes Kader für Management-Aufgaben geschaffen würde. Eine bekannte Möglichkeit sind Assistenzprofessuren mit klaren Regeln für eine spätere Festanstellung – die sogenannte Tenure Track. Doch wie können die unabhängigen Hochschulen zu Reformen motiviert werden? «Eine Möglichkeit wäre ein viel transparenteres System», so Smith. «Wenn die jungen Leute gut informiert sind, haben sie wirklich die freie Wahl zwischen den attraktivsten Karrieren an den Hochschulen.» So könnte Druck von unten entstehen.
Frauen ab Doktorat untervertreten
Ausgangslage: Beim Eintritt in die Hochschule sind die Frauen mit 54 Prozent noch übervertreten (Bundesamt für Statistik, 2021). Das Verhältnis hält sich während des Studiums ungefähr, kippt beim Doktorat und sinkt auf der Stufe Professur und Führungspersonal auf 27 Prozent. Frauen beenden die akademische Karriere überproportional häufig. Die sogenannte Leaky Pipeline ist vor allem in der Veterinärmedizin und der Psychologie zu beobachten, in denen die Frauen im Studium am meisten übervertreten sind. Im Elektroingenieurwesen ist der Frauenanteil zwar von Anfang an klein, bleibt aber im Verlauf der Karriere mehr oder weniger konstant. Die Grösse des Lecks variiert auch nach Ländern und Hochschulen.
Problem: Ob die Leaky Pipeline an sich abgedichtet werden muss, darüber gehen die Meinungen auseinander. Für Katja Rost, Professorin für Soziologie an der Universität Zürich, ist klar, dass sie heutzutage nichts mehr mit Diskriminierung bei Bewerbungsverfahren zu tun hat, im Gegenteil: «Mittlerweile werden Männer diskriminiert.» Die Studienlage dazu sei eindeutig. Die Leaky Pipeline mache hingegen sogenannte geschlechterspezifische Selbstselektionseffekte sichtbar, bedingt durch die Unvereinbarkeit von akademischer Karriere und Elternschaft. Da beobachte man eine Retraditionalisierung der Familien.
Nicky Le Feuvre, Professorin für Soziologie an der Universität Lausanne, nuanciert diese Aussagen. 50/50 sei klar nicht das Ziel, aber für ein gesundes Hochschulumfeld sollte der Anteil an Professorinnen ungefähr dem Anteil der Studentinnen innerhalb eines Fachs entsprechen. Um die richtigen Massnahmen zu treffen, müsse der gesellschaftliche Rahmen samt ausserakademischem Arbeitsmarkt mitberücksichtigt werden. «Die Bereitschaft, sich nach einem Master für ein Doktorat einzuschreiben, variiert nach den beruflichen Möglichkeiten, die sich einer Person bieten.» Das hat eine von ihr mitbetreute Dissertation gezeigt.
Mögliche Lösungen: Für Le Feuvre passt die Hochschulkultur nicht zum schweizerischen Umfeld: «Wir haben eine relativ konservative Geschlechterordnung mit engen Stundenplänen an Schulen, während das akademische Ethos viel Präsenzzeit fordert.» Dass die Hochschulen weiterhin auf ein typisch männliches – und damit wenig familienfreundliches – Modell setzen, liege auch daran, dass sie international dennoch als attraktive Arbeitgeberinnen gelten. Auch für Katja Rost ist vor allem die gesamtgesellschaftliche Situation problematisch. Der Druck auf junge Frauen sei gross – Karriere, Muttersein, Schönheit –, alles müsse gelingen. Das mache unglücklich. Sie kämpfe daher nicht mehr gegen die Leaky Pipeline an. Ausserdem sorge sie sich um die Attraktivität der Hochschulen: «Die genialsten Männer und Frauen bleiben wegen der geringeren Löhne so oder so nicht an den Universitäten.»