Das Banner einer Demonstration in Berlin vom 10. März 2024, in der Mitte Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, benennt unterschiedliche Formen von Antisemitismus – eine umstrittene Dreiteilung.| Foto: Christophe Soeder/Keystone

Universitätsbesetzungen und Demonstrationen für einen Boykott gegen Israel – der Krieg im Gazastreifen löst weltweit heftige Reaktionen aus. Dabei sind Antisemitismusvorwürfe rasch zur Hand, ohne dies zu begründen. Ein Problem, schreiben Forschende auf der Online- Plattform «Geschichte der Gegenwart»: «Um Antisemitismus zu bekämpfen, reicht es nicht, diesen diffus den anderen zu unterstellen. » Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bietet in einem Artikel Klärung an und giesst Antisemitismus in drei Formen: den einheimischen rechtsextremen, den arabischmuslimischen und den politisch linken.

Den einheimischen rechtsextremen definiert die deutsche Forscherin als jene Variante von Judenhass, die seit 2000 Jahren durch Europa geistert und sich von der ursprünglich christlichen Motivation in nationalistische und rassistische Verschwörungsfantasien gewandelt hat. Dieser Antisemitismus gipfelte im Holocaust, der heute von Vertretenden dieser Variante relativiert oder geleugnet wird. Die arabisch-muslimische Version versteht Assmann als politische Reaktion auf die Gründung Israels und die Vertreibung der Palästinenser ab 1948.

«Der rechtsextreme Antisemitismus hat global metastasiert.»Aleida Assmann

Der Hass richte sich dabei nicht gegen Jüdinnen auf der ganzen Welt, sondern gegen deren Präsenz im Nahen Osten. «Eigentlich ist das arabischer Antiisraelismus», präzisiert sie im Telefongespräch. Der muslimische Fundamentalismus habe sich später da «draufgesetzt». Der linke Antisemitismus sei dagegen politisch-ideologisch motiviert und ein Erbe des Kalten Krieges sowie der DDR, wo die Kommunisten den Staat Israel als kapitalistische Besetzungsmacht sahen. Die militante Linke lehne zudem Nationalismus grundsätzlich ab. «Eigentlich ist das Antizionismus », präzisiert Assmann auch hier.

Diese Unterscheidung sei wichtig, selbst wenn die Formen nicht immer klar zu trennen seien. Linke Kreise etwa verwenden auch rechtsextreme Verschwörungsfantasien, in denen Jüdinnen als Drahtzieher der sogenannten Hochfinanz imaginiert werden. Es gebe zudem muslimische Ansichten, die den Holocaust leugnen oder verherrlichen und die Vernichtung Israels fordern. «Der rechtsextreme Antisemitismus hat global metastasiert», räumt Assmann ein. Genau darum ist Alfred Bodenheimer, Leiter des Fachbereichs Jüdische Studien der Universität Basel, nicht sicher, ob die Dreiteilung hilfreich ist, denn: «Die Formen greifen extrem stark ineinander.»

Debatten begannen mit Politisierung

Wichtig ist ihm zudem historische Präzision: Der muslimische Antisemitismus existiere nicht erst seit der Staatsgründung Israels 1948. In den 30er-Jahren hätten die Nationalsozialisten alles dafür getan, um in der muslimischen Welt Verbündete zu finden. Etwa in Kooperation mit dem Grossmufti von Jerusalem. «Das hat dort viel nachhaltiger Spuren hinterlassen als in Deutschland, wo es nach dem Krieg eine Aufarbeitung gab.» Beim linken Antisemitismus betont er die Bedeutung des postkolonialen Ansatzes des Israelhasses: Dort wird die Geschichte manipuliert, um Israel als Kolonialmacht zu verurteilen.» Juden werden dabei mit Europäern, die andere Länder besetzt haben, verglichen. Dass sie selbst aus der Region stammen, wird unterschlagen.

«Es gibt keinen spezifisch linken oder muslimischen Antisemitismus.»Christina Späti

Die Schweizer Historikerin Christina Späti von der Universität Freiburg vermisst bei Assmann derweil «den Antisemitismus, der aus der Mitte der Gesellschaft kommt». Die Reduzierung auf drei Gruppen sei zu restriktiv: «Judenfeindschaft stellt ein seit Jahrhunderten bestehendes angebliches Wissenssystem dar.» Es basiert auf negativ besetzten Vorurteilen und Stereotypen. «Die Verschwörungsfantasien verweben diese dann zu Erklärungsmustern », so Späti. «Es gibt keinen spezifisch linken oder muslimischen Antisemitismus. Es gibt nur unterschiedliche Akteure, die unterschiedliche Aspekte hervorheben.» So weit, so uneinig sind sich die Forschenden.

Die Divergenzen zeigen sich schon in den gängigen zwei Definitionen: diejenige der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) aus dem Jahr 2016, die von über 30 Staaten anerkannt wurde, darunter die Schweiz, sowie die Jerusalem Declaration of Antisemitism aus dem Jahr 2021 mit rund 360 Unterzeichnerinnen aus der Akademie, darunter Aleida Assmann. Die IHRA-Definition erhebe keinen wissenschaftlichen Anspruch, sondern wurde entwickelt, um konkrete antisemitische Vorfälle verfolgen zu können, erklärt Späti. Für das Monitoring funktioniere sie offenbar gut. «Die Debatten fingen mit der zunehmenden Politisierung der Definition an.» Sprich: Als man auf ihrer Basis anfing, Positionen gegen Israel als antisemitisch zu bezeichnen. Der tiefste Graben zwischen den beiden Ansätzen zieht sich denn auch durch die Frage, wann Kritik am Staat Israel antisemitisch ist.

Zwei Definitionen, andere Konsequenzen

Im Kern der IHRA-Definition steht: «Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.» Die deutsche Bundesregierung hat das erweitert: «Darüber hinaus kann auch der Staat Israel Ziel solcher Angriffe sein.» So gesehen kann ein Boykottaufruf gegen Israel als antisemitisch gelten.

Die IHRA führt zudem elf beispielhafte Leitlinien auf. Etwa: Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts des jüdischen Volkes, beispielsweise durch die Behauptung, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Unterfangen. Wird an Demonstrationen skandiert, Israel sei ein Apartheidstaat, kann die Aussage folglich als antisemitisch gelten.Oder: «Anwendung doppelter Standards, indem von Israel ein Verhalten verlangt wird, das von keiner anderen demokratischen Nation erwartet wird.» Fordert man nun, dass Israel nicht mit Gewalt gegen Terrorismus reagiert, kann das als antisemitisch gelten.

«Judenfeindschaft stellt ein seit Jahrhunderten bestehendes angebliches Wissenssystem dar. Es basiert auf negativ besetzten Vorurteilen und Stereotypen. Die Verschwörungsfantasien verweben diese dann zu Erklärungsmustern.»Christina Späti

Im Kern der Jerusalem-Erklärung steht: «Antisemitismus ist Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische).» Das «als jüdisch» ist wichtig: Ein Boykottaufruf gegen Israel würde nicht per se als antisemitisch betrachtet werden. Auch die Jerusalem-Erklärung führt 15 leitende Beispiele auf, darunter fünf, die als explizit nicht antisemitisch gelten. Dazu gehört, «den Zionismus als Form des Nationalismus abzulehnen». Es sei nicht antisemitisch, Regelungen zu unterstützen, die allen Bewohnenden «zwischen dem Fluss und dem Meer» volle Gleichberechtigung gewähren.

Das gelte auch für «evidenzbasierte Kritik an Israel als Staat», die dessen Politik umfasse, darunter das Verhalten im Westjordanland und im Gazastreifen. «Es ist nicht antisemitisch, auf systematische rassistische Diskriminierung hinzuweisen», auch nicht, «Israel mit historischen Fällen wie Siedlerkolonialismus oder Apartheid zu vergleichen ». Für Israel wie für Palästina gälten dieselben Diskussionsnormen wie für alle anderen Staaten. Ein Demonstrationsbanner, das Israel Apartheidstaat nennt, wäre folglich nicht antisemitisch. Auch nicht per se der Spruch «from the river to the sea».

Die Angst vor dem Kippmoment

In der Praxis wird es rasch kompliziert, wie Alfred Bodenheimer betont: «Wer heute so tut, als wäre der Ruf ‹From the river to the sea Palestine will be free› ein von der Jerusalem- Erklärung gedeckter freundlicher Aufruf an Palästinenser und Juden, sich doch zusammenzusetzen », blende die Realitäten aus. «Die Präsenz dieses Rufs in Europa und den USA unmittelbar nach dem Massaker der Hamas hat der Vision eine unübersehbare, genozidale Färbung gegeben.»

«Man sollte den Begriff Antisemitismus zwei Jahre unter ein Moratorium stellen, denn er deckt mehr zu, als er offenlegt.»Alfred Bodenheimer

Welche der Definitionen man anwende, sei eine politische Entscheidung, sagt Späti. Wer Israel gegenüber eher kritisch eingestellt sei, werde eher der Jerusalem-Erklärung folgen, die anderen der IHRA-Definition. Es sind jedoch nicht die Definitionen, die Bodenheimer Sorgen machen. «Ich habe Angst, dass der Begriff selber kippt, dass Leute wieder sagen: Ich bin Antisemit.» Er habe solche Aussagen bereits in Kommentarspalten gelesen. Etwa mit der Begründung: Wenn ich sehe, was die Jüdinnen machen, sind sie offenbar wirklich das Übel auf der Welt. So werde der Diskurs über Antisemitismus plötzlich ein Diskurs über eine Meinung von vielen. «Davor schützte uns bisher das Tabu, dass man Juden nicht hassen darf. Das ist ein sehr fragiler Konsens.» Dieser scheine zu bröckeln.

Bodenheimer schlägt ein Gedankenexperiment vor: «Man sollte den Begriff Antisemitismus zwei Jahre unter ein Moratorium stellen, denn er deckt mehr zu, als er offenlegt.» Denkbare Alternativen wären Adjektive wie menschenverachtend, pauschalisierend, holocaustleugnend oder auch einfach unfair. «Dann müsste man wirklich darüber nachdenken, was man sagen möchte, und die Vorwürfe ehrlich benennen. Und man würde sicher wieder mehr miteinander reden.»