Im eigenen Daheim leben, auch wenn es einem psychisch so schlecht geht, dass man Unterstützung braucht. Studien zu Wohncoaching sind eine Herausforderung. | Foto: Getty Images

Auch Menschen mit einer schweren Depression oder Persönlichkeitsstörung möchten meist lieber in den eigenen vier Wänden leben als in betreuten Settings. Trotzdem ist das eigen­ständige Wohnen mit professionellem Coaching noch wenig verbreitet. Warum das so ist, dem sind Dirk Richter von den Uni­versitären Psychiatrischen Diensten Bern und Matthias Jäger, Direktor der Erwachsenen­psychiatrie Baselland, nachgegangen.

Studienabbruch aus ethischen Gründen

Die psychiatrische Rehabilitation funktioniert üblicherweise nach dem Stufenleiter-Prinzip: Betroffene sollen erst diverse betreute Settings durchlaufen, bevor ihnen eine eigene Wohnung in Aussicht gestellt wird. Der Aufenthalt in Heimen und Wohngruppen ist an strenge Auflagen geknüpft: vom Einhalten des Ämtliplans bis zur Alkoholabstinenz. Schritt für Schritt sollen die Personen lernen, mit den Anforderungen eines autonomen Alltags zurechtzukommen. «So zumindest die Idee», sagt Richter. «Nur funktioniert sie meistens nicht.»

Das selbstständige Wohnen mit Coaching geht die Sache andersherum an: Betroffenen wird zuerst geholfen, eine eigene Wohnung zu finden oder zu halten, und in dieser werden sie dann individuell unterstützt, sei es beim Termin mit der Vermieterin oder bei der Haushaltführung. Noch gibt es nur wenige Studien zur Wirkung der verschiedenen Wohnformen. Wer sie vergleichen will, steht vor methodischen Herausforderungen: Randomisierte kontrollierte Studien (RCT) gelten als Goldstandard, doch eine zufällige Zuweisung zu Wohncoaching oder Kontrollgruppe ist kaum durchführbar: Die wenigsten Versuchspersonen sind bereit, die Wahl der Wohnform aus der Hand zu geben. Beobachtungsstudien dagegen haben den Vorteil, dass das Setting eher dem Wunsch der psychisch Erkrankten entspricht. Diesem Studiendesign wird aber nur geringe Beweiskraft zugeschrieben.

«Wir mussten die Studie vorzeitig abbrechen. Teilnehmenden einen freien Platz künstlich vorzuenthalten, wäre nicht vertretbar gewesen.»Matthias Jäger

Gemeinsam mit ihrem Team wollten Jäger und Richter eine erste RCT zu eigenständigem Wohnen mit Coaching bei nicht obdachlosen Personen durchführen und die Ergebnisse mit einer Beobachtungsstudie ver­gleichen. «Wir mussten die Studie aber vorzeitig abbrechen», so Jäger. Die meisten Teilnehmenden hätten sich nur auf die Studie eingelassen, weil sie damit auf die Warteliste für das Wohncoaching gekommen seien. Ihnen einen freien Platz künstlich vorzuenthalten, wäre nicht vertretbar gewesen.

Für die Forscher kommt als Alternative durchaus eine Beobachtungsstudie infrage, wenn sie den statistisch hohen Anforderungen genügt. Doch: «Wohncoachings nur anzu­bieten, wenn ein empirischer Nachweis höchsten Evidenzgrads gegeben ist, wäre wenig sinnvoll», so Jäger. Zumal das Modell bisher keineswegs schlechter abschneide als andere Settings und wohl deutlich kosteneffizienter ausfallen dürfte. «Wenn dazu noch die Präferenzen der Betroffenen so eindeutig sind, sollte das eigentlich Argument genug sein.»

In der Romandie mehr verbreitet

Selbst die besten Daten richteten wenig aus, wenn es den verantwortlichen Stellen an Bereitschaft für das Wohncoaching fehle, glaubt Marius Knorr, Oberarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Geldgeber wie die kantonale Gesundheitsdirektion wüssten oft nicht, wo sie das Modell verorten sollen, da es sich nicht um eine klar medizinische Leistung handle. «Dass eine Verbesserung des Gesundheitszustands auch mit der Wohnsituation zu tun haben kann, lässt sich empirisch schwer darstellen.»

«In den vergangenen Jahren waren es vor allem die evidenzbasierten Interventionen der Sozialpsychiatrie, die den Alltag psychisch schwer Erkrankter revolutioniert haben.»Charles Bonsack

Für die zögerliche Verbreitung von Wohncoaching macht Charles Bonsack, Leiter für Gemeindepsychiatrie am Universitätsspital Lausanne, neben den finanziellen auch kulturelle Gründe aus: Die Verlagerung auf die ambulante Versorgung sei in der Romandie stärker ausgeprägt als in der Deutschschweiz.

Die Erkenntnisse in der Sozialpsychiatrie würden zudem oft von den Versprechungen der Neurowissenschaften überschattet. «In den vergangenen Jahren waren es vor allem die evidenzbasierten Interventionen der Sozialpsychiatrie, die den Alltag psychisch schwer Erkrankter revolutioniert haben», sagt Bonsack. «Die meisten Medikamente kennen wir schon seit den Fünfzigerjahren.»